Inbrünstig arbeiten Quantenphysiker am Harry-Potter-Tarnmantel. Gut, bei der Umsetzung gibt es gewisse Hürden. Doch vollkommen unmöglich ist Unsichtbarkeit nicht mehr.
Von Niels Boeing
3. November 2015, 8:19 Uhr ZEIT Wissen Nr. 6/2015, 13. Oktober 2015 10 Kommentare
Quantenphysik, Wissen, Science Fiction, Quantenphysik, Physik, Harry Potter

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Die kleine Gruppe starrt den bandagierten Mann mit der dunklen Brille an, der sie wütend anblafft. „Sie sind versessen darauf, zu erfahren, wer ich bin?”, sagt der Mann. „Nun gut. Ich zeige es Ihnen.” Dann fängt er an, die Bandage langsam von seinem Kopf zu wickeln – und der Kopf verschwindet. Über dem Hemdkragen: nichts. Die Gruppe bricht in Panik aus und stürmt aus dem Zimmer. „Er hat sich aufgelöst”, stammelt einer von ihnen. Dieser Schock dürfte auch so manchen Zuschauer ereilt haben, als The Invisible Man Ende 1933 in den amerikanischen Kinos anlief. Mit für damalige Verhältnisse spektakulären Tricks hatte John Fulton, einer der Pioniere filmischer Spezialeffekte, den gleichnamigen Roman von Herbert George Wells ins Bild gesetzt.

Die Vorstellung, dass sich jemand unsichtbar machen könnte, hat Menschen seit je mit einer Mischung aus Faszination und Unbehagen erfüllt. In der griechischen Mythologie besaß Hades, der Herr der Unterwelt, eine Tarnkappe. Auch in den Sagen nördlicher Breiten spuken unsichtbare Helden herum. Siegfried bezwang im Nibelungenlied mithilfe einer „Tarnhaut”, die er dem Zwerg Alberich abgeluchst hatte, die kraftstrotzende Brunhild, die zuvor kein Mann hatte besiegen können. Aus den Mythen der Vergangenheit wurde Science-Fiction der Neuzeit. Doch immer konnten sich Zuhörer oder Zuschauer sicher sein: Es bleibt ein Märchen, ein interessantes Gedankenexperiment. Unsichtbarkeit kann es nicht geben. Sicher, das 20. Jahrhundert hatte Herztransplantationen, Flugzeuge, Mondraketen und geniale Schachcomputer gesehen, die zuvor auch als unmöglich galten. Aber Unsichtbarkeit? Ach was.
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Am 19. Oktober 2006 war es auch um diesen Mythos geschehen. Da veröffentlichten die Physiker John Pendry und David Smith gemeinsam mit Kollegen einen Aufsatz mit dem sperrigen Titel Metamaterial Electromagnetic Cloak at Microwave Frequencies. Dahinter steckte eine echte Sensation: Die Wissenschaftler hatten einen Gegenstand unsichtbar werden lassen. Zwar nur, wenn man ihn mit Mikrowellen beleuchtete. Eine alltagstaugliche Tarnkappe war das noch nicht. Doch den Forschern war es tatsächlich gelungen, elektromagnetische Strahlung gewissermaßen um ein Objekt herumfließen zu lassen – so wie Wasser einen Felsen umspült und danach flussabwärts fließt, als wäre nichts geschehen. Wie war das möglich?

Normalerweise breitet sich Licht geradlinig aus. Doch in bestimmten, für elektromagnetische Wellen durchlässigen Materialien tritt ein ungewöhnlicher Effekt auf: Sie lassen den Raum, durch den Licht sich ausbreitet, gekrümmt erscheinen. „Der Raum ist natürlich nicht wirklich gekrümmt”, sagt der Physiker Ulf Leonhardt vom schottischen St. Andrews College, „das würde extreme Gravitationsfelder erfordern, aber er macht auf Licht diesen Eindruck.” Leonhardt und andere Wissenschaftler haben seit 2006 die mathematischen Grundlagen weiter ausgearbeitet, mit deren Hilfe man Materialien designen kann, die diesen Effekt hervorrufen. Die Forscher reden von „Metamaterialien”.

Klingt wie Zauberei, ist aber reguläre Physik: Licht ist elektromagnetische Strahlung und breitet sich in Wellen aus. Beträgt die Wellenlänge einige Meter, spricht man von Radiowellen, bei Zentimetern von Mikrowellen, bei Mikrometerwellen von Infrarotstrahlung und bei kleineren Längen von sichtbarem Licht. Jede dieser elektromagnetischen Wellen hat zwei Bestandteile: ein elektrisches und ein magnetisches Feld, die beide schwingen, sich also wellenförmig ausbreiten. Bewegen sich Wellen durch den Weltraum, also durch Vakuum, entspricht ihre Geschwindigkeit der Lichtgeschwindigkeit. Treffen sie auf Materie, etwa auf Luftmoleküle, Wasser oder Metalle, können verschiedene Dinge passieren: Die Strahlung wird reflektiert, absorbiert oder durchgelassen. Ein Stoff, der die gesamte Strahlung reflektiert, ist ein Spiegel. Absorbiert er das Licht vollständig, erscheint er abgrundtief schwarz. Lässt er die gesamte Strahlung durch, ist er transparent, wie Luft.

Komplizierter wird es, wenn ein Stoff von allem etwas macht – wenn seine Elektronen gewissermaßen mit dem elektrischen und dem magnetischen Feld spielen, es annehmen, kneten und wieder freilassen, und das viele Male hintereinander. Dann kann die Welle ihre Ausbreitungsrichtung und ihre Geschwindigkeit ändern, sie wird zum Spielball der Materie, wie eine Flipperkugel. Was von alldem geschieht, hängt von den Grundbausteinen des Materials ab.