Über die Grenze nach Deutschland kommen immer noch mehr Migranten, als neu an den Küsten Italiens und Griechenlands anlanden. In diesem Jahr reisten bis Ende Mai laut Bundesinnenministerium schon wieder 77.148 Migranten nach Deutschland, die angaben, auf der Suche nach Schutz zu sein.
Für die beiden wichtigsten Ersteinreisestaaten präsentierte die Internationale Organisation für Migration (IOM) mit Stand Mitte Juni folgende Zahlen: Italien – 65.000 und Griechenland – 8000.
Nach dem europäischen Asylsystem sollen eigentlich alle ankommenden Schutzsuchenden dort ihr Asylverfahren durchlaufen, wo sie erstmals ihren Fuß auf europäischen Boden gesetzt haben. Wer in andere Länder weiterreist, müsste zurückgeschickt werden. Doch das gelingt nach wie vor nur selten – in den ersten drei Monaten dieses Jahres konnte die Bundesrepublik nur 1344 Migranten in andere europäische Länder überstellen.
Das Problem, das angeblich oder tatsächlich Schutzsuchende unerlaubt nach Europa reisen und sich dort oft ungehindert im Staat ihrer Wahl niederlassen können, ist lange bekannt. Einer der vielen Gründe dafür waren Urteile des Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Jahr 2011, nach denen Rücküberstellungen nach Griechenland wegen „systemischer Mängel“ im griechischen Asylsystems vollständig ausgesetzt wurden. Wer also über Griechenland nach Deutschland kam, musste selbst dann keine Rücküberstellung fürchten, wenn er dort registriert wurde.
Inzwischen hat sich die Situation in Griechenland nach Ansicht der EU-Kommission aber deutlich gebessert, weswegen Brüssel im Dezember empfahl, die Dublin-Regeln auf Griechenland wieder schrittweise anzuwenden und zwar nur für solche Migranten, die ab dem 15. März 2017 in Griechenland landen und dann weiterziehen.
50 Rückführungsgesuche an Griechenland
Die Schutzsuchenden sollen auch „nur dann nach Griechenland gebracht werden, wenn die griechischen Behörden im Einzelfall versichern, dass der Asylbewerber in angemessenen Aufnahmezentren untergebracht wird und entsprechend den Standards der EU-Gesetzgebung behandelt wird“, empfahl die Kommission. Nicht betroffen sind besonders schutzbedürftige Migranten, das sind vor allem (angeblich oder tatsächlich) Minderjährige, die ohne ihre Eltern einreisen.
Die Bundesregierung folgte zwar der rechtlich nicht bindenden Empfehlung aus Brüssel, doch bisher ohne zählbaren Erfolg, weil Athen nicht kooperiert. Seither „wurden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) rund 50 Übernahmeersuchen an Griechenland gestellt“, teilte das Bundesinnenministerium der WELT mit. Doch Griechenland sendet die erforderlichen Papiere nicht an das BAMF, in denen Athen zusichern müsste, die von der EU-Kommission geforderten „Standards der Aufnahme-Richtlinie und der Asylverfahrens-Verordnung“ einzuhalten. „Daher sind auch noch keine Überstellungen nach Griechenland erfolgt“, sagte die BMI-Sprecherin.
Griechenland war traditionell ein Transitstaat für Schutzsuchende, entwickelte sich aber zu einem wichtigen Aufnahmeland, seitdem auf der Balkanroute Grenzen geschützt werden. Gemessen an mitteleuropäischen Verhältnissen sind die aktuell rund 62.000 in Griechenland untergebrachten Flüchtlinge zwar nicht viel. Doch das überschuldete und von Massenarbeitslosigkeit geplagte Land würde gern wesentlich mehr Migranten in andere EU-Länder umverteilen.
Obwohl Griechenland selbst nicht nicht kooperiert, nahm die Bundesrepublik dem Mittelmeerland in diesem Jahr bereits mehr als 1200 Migranten im Rahmen von Dublin-Überstellungen ab und weitere 2300 im Rahmen der beschlossenen EU-Umsiedlung, gegen die sich besonders die Osteuropäer stemmen, solange die EU-Außengrenzen nicht weitgehend abgeriegelt sind.
Dass die Überstellungen nach Griechenland nicht funktionieren, ist nicht völlig überraschend. Nachdem die Bundesregierung im März mitgeteilt hatte, der EU-Empfehlung folgend wieder Überstellungen durchzuführen, hatte der griechische Außenminister im Gespräch mit der WELT gesagt, er „sehe nicht, dass Griechenland die Kapazitäten und die finanziellen Mittel hat, Flüchtlinge aufzunehmen, die aus den nördlichen EU-Ländern zurückgeschickt werden“.
Nur 371 Personen nach Italien überstellt
Auch in den inzwischen wieder wichtigsten Einreisestaat Italien werden kaum Migranten aus Deutschland zurückgebracht. Im ersten Quartal stellte die Bundesrepublik 6743 Übernahmeersuchen an Italien – die meist erfolglos blieben. Im selben Zeitraum wurden nur 371 Personen nach Italien überstellt. Das Bundesinnenministerium sieht verschiedene Gründe dafür. Zum einen können nur Übernahmeersuchen gestellt werden, „wenn ein Nachweis der Zuständigkeit anhand eines EURODAC-Treffers (europäische Datenbank) oder anhand von Indizien möglich ist“.
Außerdem richte das BAMF aufgrund der sogenannten „Tarakhel-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte bei Familien mit Kindern bis drei Jahren keine Übernahmeersuchen“. Und zwar, weil die deutschen Verwaltungsgerichte für jeden Einzelfall „vor einer Dublin-Überstellung nach Italien“ von den italienischen Behörden eine Zusicherung „bezüglich der Unterbringung von Familien fordern“, sagte die BMI-Sprecherin.
Im Jahr 2014 hatte der EGMR geurteilt, dass die afghanische FamilieTarakhel nicht aus der Schweiz nach Italien zurückgebracht werden darf, solange Italien keine individuellen Garantien abgebe, dass die sechs Kinder eine ihrem Alter angemessene Betreuung erhalten und als Familie gemeinsam untergebracht werden.
Nachdem die Familie im Juli 2011 zunächst über Italien in die EU eingereist war, stellte sie in Österreich einen Asylantrag, der abgelehnt wurde. Dann reiste sie weiter in die Schweiz, wo sie im November 2011 erneut einen Asylantrag stellte. Die Schweizer Behörden lehnten ab, den Antrag zu bearbeiten, da gemäß der Dublin-Verordnung der EU, die nach einem Assoziierungsabkommen auch in der Schweiz Anwendung findet, Italien für die Bearbeitung des Antrags verantwortlich sei.
Die Familie berief sich unter anderem auf Artikel 3 (Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Sie machten insbesondere geltend, dass die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien mangelhaft seien und sie nach einer Abschiebung dorthin ohne individuelle Garantien hinsichtlich ihrer Betreuung einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wären.
Migranten bekommen vor Gericht oft recht
Auch aus anderen Gründen verhindert die derzeitige Rechtslage oft die Durchsetzung des politischen Willens bei den Rückführungen. „Viele Asylbewerber, für deren Asylverfahren gemäß der Dublin-Verordnung Italienzuständig wäre, erheben Klage gegen die Dublin-Überstellungsbescheide des BAMF“, teilt das BMI der WELT mit. Wenn das zuständige Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid anordne, könne der Betreffende bis zum Ende des Verfahrens nicht überstellt werden, was durchaus mehrere Monate in Anspruch nehmen könne.
In einzelnen Fällen komme es zur Aufhebung der Überstellungsbescheide durch die Verwaltungsgerichte, erläutert das Ministerium weiter. Ein zusätzliches Problem sei, dass die Asylbewerber, die überstellt werden sollen, oft nicht angetroffen werden beziehungsweise untertauchen. Nach der aktuellen Rechtslage könne das dazu führen, dass nach Ablauf einer sechsmonatigen Frist, im Fall des Untertauchens nach 18 Monaten, „die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens auf Deutschland übergeht“.
Obwohl die Zuwanderung über das Asylsystem schon seit Anfang der Neunzigerjahre das Migrationsgeschehen in Deutschland prägt und die unerlaubte Einreise von angeblich oder tatsächlich Schutzsuchenden meist über kurz oder lang zur dauerhaften Einwanderung führt, zeichnen sich keine berichtenswerten politischen Veränderungen dieses Zustands ab.
https://www.welt.de/politik/deutschland/article165742568/Athen-blockiert-Rueckfuehrung-von-Migranten-aus-Deutschland.html