Aus eigener Kraft kann die SPD den Bundestagswahlsieg nicht mehr schaffen. Martin Schulz war der richtige Kandidat für ein Macron-Deutschland, das wie Frankreich auf den völlig unbekannten Erlöser wartet. Deutschland braucht aber keinen Erlöser. Wenn bei drei Landtagswahlen eine CDU-geführte Regierung bestätigt wird, die beiden SPD-geführten aber abgewählt werden, dann liegt das an der SPD, nicht an der CDU.
Es gab in allen drei Ländern regionale Besonderheiten, die zum Ergebnis beitrugen. Aber wenn die Wähler wirklich der Wunsch triebe, Martin Schulz solle Deutschland steuern und damit die Stabilität der Welt garantieren, dann wären diese Besonderheiten kaum ins Gewicht gefallen.
Wenn es mit Blick auf die Bundestagswahl tatsächlich eine Wechselstimmung gäbe – liebe Güte, dann hätte es Daniel Günther nicht in den Vorraum der Kieler Staatskanzlei geschafft und Hannelore Kraft nicht zum Hinterausgang der SPD-Zentrale.
Ist Schulz das falsche Pferd für die SPD?
Eine Sozialdemokratische Partei, die das nicht spürt, scheitert. Sie hat es nicht gespürt, denn sonst hätte sie den nüchternen, erfahrenen Frank-Walter Steinmeier als Kanzlerkandidat aufgestellt. Sie wählte aber den redseligen Schulz, mit 100 Prozent der Delegiertenstimmen, und nun wächst der Eindruck, sie habe hundertprozentig auf das falsche Pferd gesetzt.
Der Missionseifer des Spitzenkandidaten führt inzwischen zu unfreiwilliger Komik. Am NRW-Wahlabend sagte er, sein Stellvertreter Ralf Stegner habe „ein wunderbares Bild benutzt“, nämlich: „Wir haben einen Leberhaken bekommen.“ Was ist daran wunderbar?
Glaubt Schulz, eine Partei der Masochisten aus dem Keller ans Licht geleiten zu müssen? Der „Bild“-Zeitung sagte er noch: „Was ich heute gelernt habe, dass Bürger von mir verlangen, nicht nur, dass ich über Gerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit rede, sondern dass ich die Zukunftsperspektive präziser beschreibe.“ Drei Mal „Ich“ und einmal „Mir“ in einem einzigen Satz.
Schulz führt die Partei, die dreimal vom Platz gefegt wurde
Das wäre sogar bei Putin oder Trump lächerlich. Schulz redet, als sei er König oder Kanzler oder mindestens der Sieger dreier Landtagswahlen. Aber er ist der Chef einer Partei, die drei Mal vom Platz gefegt worden ist, am schlimmsten im SPD-Stammland, seiner eigenen Heimat.
In einem einzigen Landtagswahlkreis ihrer deutschen Hochburg Nordrhein-Westfalen kam die SPD auf über 40 Prozent der Stimmen. Spürt Schulz, wie schnell er den Eindruck wecken kann, nur noch Selbstgespräche zu führen?
Die Schulz-SPD hat keine präzise Zukunftsperspektive, da hat er recht. Wo sollen denn die neuen Ideen herkommen, die Schulz nun binnen vier Monaten finden will? Wie möchte er solche Ideen glaubwürdig vertreten, ohne dass sie wie eine letztmals aufpolierte Schaufensterdekoration wegen Geschäftsaufgabe aussehen?
Die SPD verliert Stimmenanteile, weil ihr die sozial Schwachen davonlaufen, und weil ein wichtiger Teil der SPD-Mandatsträger mit der Moderne nicht wirklich etwas anfangen kann. In NRW waren die Verluste in Wahlkreisen mit einem hohen Anteil Einkommensschwacher am größten.
„Gerechtigkeits“-Debatte geht am Wähler vorbei
Die „Gerechtigkeits“-Debatte, mit der Martin Schulz das Kanzleramt erobern möchte, geht am Gefühl solcher Wähler vorbei. Dieselverbot, Einbrecher, Einwanderer sind Stichworte, die dort mehr Resonanz erzeugen. Ein immer noch zu großer Teil der SPD wird mürrisch, wenn es um solche Themen geht.
Diese Sozialdemokraten leben erst auf, wenn die Rede auf den zur Goethezeit geborenen, kalkweiß-griesegrauen Karl Marx kommt. Praktisches Resultat einer solchen Haltung ist die Abwicklung der Agenda 2010, die Fantasiedebatte um Gerechtigkeit als deutsches Grundproblem, und die schwelende Debatte um Rot-Rot-Grün.
Den verstohlenen Flirt mit der Linkspartei kann Schulz jetzt beenden, und wird es vielleicht auch versuchen. Aber wie es so ist – manche Wähler haben die heimlichen Blicke und Gesten bereits mitbekommen.
Hannelore Kraft hatte eine Koalition mit der Linkspartei erst ausgeschlossen, als die Umfragen in den Keller gingen, ganze vier Tage vor der Wahl. Diese Rendezvous-Absage in letzter Minute wurde weithin so verstanden: Wir schließen eine Regierung mit der Linken nicht aus Prinzip aus, sondern aus Opportunität. Der linke SPD-Flügel ging daraufhin zu den Nichtwählern, ohne dass Mitte-Wähler zur SPD stießen.
Aus eigener Kraft schafft es Schulz nicht mehr gegen Merkel
Wenn Martin Schulz die Akte Rot-Rot-Grün jetzt auf Bundesebene offiziell zuklappt, hätte es dieselbe Folge. Bei der Bundestagswahl geht es für viele Wähler um Europa und die Welt. Merkel oder Wagenknecht? Das übersetzen viele Wähler als: Stabilität oder Ungewissheit. Nato oder Moskau. Was gibt es da für die SPD als mögliche Kanzlerpartei bis kurz vor der Wahl zu grübeln?
Deshalb werden nicht wenige Wähler folgern: Wenn die SPD einen derartigen Unsinn wie Rot-Rot-Grün erst unter dem Druck dreier Niederlagen ausschließt, dann ist sie in Wahrheit weder mit uns Wählern noch mit sich selber ehrlich. Also meint die SPD das, was sie nun stattdessen verkünden möchte, auch nicht ernst.
Aus eigener Kraft schaffen die Sozialdemokraten es nicht mehr. Sie sind darauf angewiesen, dass ein Stimmungsumschwung plötzlich Angela Merkel trifft. Das kann eintreten. Armin Laschet war in den Umfragen binnen weniger Wochen mal bis zum Kopf unter Wasser, dann wieder hoch über allen Wellenkämmen. Die CDU kann den Erfolg ja selber kaum glauben. Die Schwankungen zeigen, wie aufgewühlt die Menschen unter ihrer Gleichmütigkeit sind. Ein Fehltritt, und alles kommt ins Rutschen.
SPD schränkt Möglichkeiten von Schulz ein
Aber auch, wenn Angela Merkel Fehler vermeidet, ist die Lage für sie kein Glücksfall. Der Bedeutungsschwund von SPD und Grünen unterminiert eine deutsche Stabilität, die Merkel international sehr geholfen hat. Die Parteienlandschaft gerät in Schieflage.
Die Auflösung der Integrationskraft links der Mitte kann eine Krise rechts der Mitte nach sich ziehen, weil die CDU sich überdehnt. Eine verunsicherte Sozialdemokratie und depressive Grüne schmälern ganz praktisch Merkels Kompromissmöglichkeiten im Bundesrat.
Die Rolle der Länderkammer als Vermittlungsort und Standbein für Deutschlands Autorität in Brüssel wird oft unterschätzt. Darüber spottet natürlich die AfD, aber sie ist Totalopposition.
Pragmatische Traditionslosigkeit gehört zum Erfolgsrezept der CDU. Das macht sie flexibel. Merkel kann elastisch auf politische Lagen reagieren, heute Flüchtlinge aufnehmen und ihnen morgen schon wieder den Weg versperren, ohne sich von ihnen zu distanzieren.
Auf dem Weg kann Martin Schulz ihr nicht folgen. Die Partei macht das nur bis zu einer bestimmten Grenze mit. „Jetzt haben wir erst mal richtig was an der Hacke“ sagte Schulz am Wahlabend. In der Tat. Keine Stille ist so lastend wie diejenige nach einem Jubel, der getrogen hat. Nun tickt die Bebel-Uhr.
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