Ungläubiges Staunen an der Côte d’Azur: Wie haben es der Drogenthriller „Sicario” und das Märchen „Marguerite und Julien” nur in den Wettbewerb geschafft? von , Cannes

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Zum achten Mal als Darsteller in Cannes dabei: Benicio del Toro  |  © Festival de Cannes

Was ist der Unterschied zwischen Sisalschnur und Kabelbinder? Also jetzt nicht heimwerklich, sondern filmdramaturgisch? Das eine wird nicht zu straff verwendet, um in einem Märchen zwei Liebende zusammenzubinden, die zum Schafott gebracht werden. Das hat dann trotz aller Grausamkeit etwas von guter alter Zeit in Manufactum-Ästhetik. Den gut festgezurrten Kabelbinder hingegen braucht man, wenn man wie der kanadische Regisseur Denis Villeneuve einen knallharten Drogenkrieg-Thriller drehen und mal so richtig Realität simulieren will.

In beiden Fällen werden Menschen hingerichtet, aber weil der eine Film (Marguerite und Julien von Valérie Donzelli) eben die romantische Liebe preist, sehen wir in diesem Fall nur noch Juliens letzten schmachtenden Blick, Schnitt, auf der Tonspur das hässliche Geräusch, das mutmaßlich ein Beil verursacht, das einen Kopf abschlägt, aber nicht zu laut (Märchen!) – dann bricht Marguerite (jung, bildhübsch: Anaïs Demoustier) auch schon tot zusammen, weil das natürlich zu viel ist.

 

Im anderen Fall, also Villeneuves Sicario, muss der Zuschauer aus ganz vielen unterschiedlichen Kamerablickwinkeln, mal in nah, mal als Gruppenbild die Menschen sehen, die mit Kabelbinder gefesselt worden waren, bevor man sie mit einem Plastiksack erstickt und in eine Wand eingemauert hatte. Dort werden sie nun entdeckt, und der Zuschauer hat ausreichend Zeit, den unterschiedlichen Fortgang der Verwesung zwischen Kopf im Plastiksack und Körper zu beurteilen, der vermutlich akribisch recherchiert wurde wegen – siehe oben – des Realismus. Die FBI-Agentin Kate (jung, bildhübsch: Emily Blunt) bricht bei dem Anblick natürlich nicht tot zusammen, sondern atmet nur etwas flacher durch den Mund. Dann fliegt draußen noch der Schuppen in die Luft und tötet zwei Kollegen oder so. Gaaanz flach weiteratmen.

Unglückliche Liebende müssen sich im Wald verstecken (Jérémie Elkaïm unter Anaïs Demoustier in "Marguerite und Julien").

Unglückliche Liebende müssen sich im Wald verstecken (Jérémie Elkaïm unter Anaïs Demoustier in „Marguerite und Julien”).  |  © Festival de Cannes

Nach zwölf Filmen hat der 68. Wettbewerb in Cannes am Dienstag seinen vorläufigen Tiefpunkt erreicht. Man wüsste wirklich gern, warum Marguerite und Julien und Sicario ausgewählt wurden. Der eine Beitrag handelt von der inzestuösen Liebe zwischen den titelgebenden Geschwistern. Das wurde bestimmt mit ganz viel Liebe und zum Teil richtig lustigen Details gedreht: Obwohl die Handlung vor mehr als 500 Jahren spielt und es einen König (mit goldiger Zick-Zack-Krone), eine Prinzessin und einen Prinzen auf einem Pferd gibt, der die Prinzessin (die nicht in echt Prinzessin ist, nur so im metaphorischen Sinne) um Schlag Mitternacht vor dem bösen Drachen rettet (der nicht in echt ein Drache ist, sondern ihr Ehemann), tauchen als Requisiten auch ein Rockabilly-Radio und ein schwarzer Ami-Schlitten auf (als Kutsche für den Bösewicht). Aber insgesamt lassen die wattige David-Hamilton Ästhetik (viel Chiffongewehe und feuchter Wald) und die Abwesenheit jeder Relevanz den Zuschauer so zuverlässig wegdämmern wie die kleinen bonbonsüßen Mädchen in ihren Bettchen (weiße Batistnachthemdchen und langes Haar im Gegenlicht), denen in der Rahmenhandlung dieses Märchen von Marguerite und Julien erzählt wird.

Nach dem Zuckerschock dann also der harte Drogenentzug. Zumindest ist es das, was Kate als ganz, ganz tapfere FBI-Agentin versucht: der Welt die Drogen zu entziehen. Man habe Figuren zeigen wollen, die nicht klar den Kategorien gut oder böse zugeordnet werden können, heißt es von den Filmemachern in ihrem Presseheft. Dann müssen die uns aber für ganz schön dumm halten, denkt sich da der Zuschauer, der damit eigentlich keine Probleme hat. Aber nur für den Fall, dass es doch den Zuschauer gibt, der nicht versteht, auf welcher Seite Alejandro (Benicio del Toro) und Matt (Josh Brolin) stehen, gibt es Dialogzeilen wie: „Du willst keine gesetzlichen Grenzen überschreiten, Kate? Die Grenzen haben sich verschoben.” Echt jetzt? Wirklich überraschend ist eigentlich nur, warum Kate das Ganze überleben darf und am Ende ausgerechnet von einem verschont wird, der noch Minuten zuvor kein Problem damit hatte, Kinder während des Abendessens abzuknallen. Da hat sich wohl ein bisschen Prinzessin von einem Genre ins andere verirrt.

Forrás: http://www.zeit.de/kultur/film/2015-05/filmfestspiele-cannes-sicario-marguerite-und-julien