Die Demonstranten zogen am Wochenende durch die Straßen von Tunis. Sie verlangten von ihrer Regierung, keine radikalen Islamisten aus dem Ausland nach Tunesien zurückkehren zu lassen. Anlass war der Terroranschlag des gebürtigen Tunesiers Anis Amri in Berlin – und die deutsche Diskussion, als gefährlich eingestufte Ausländer schneller in ihre Heimat abzuschieben. Das machte ein Transparent besonders deutlich: „Angela Merkel, Tunesien ist nicht die abfall von Deutschland“, stand darauf in holpriger Grammatik.
Dass das Thema die Tunesier so aufbringt, liegt weniger an Anis Amri allein. Sondern vielmehr an der schieren Zahl radikalisierter Tunesier im Ausland. Rund 5000 kämpfen laut UN-Schätzungen für die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) oder al-Qaida, vor allem in Syrien und im Irak, Mali und Libyen. Der Frage, ob die Menschen zurückkehren dürfen und wie man mit ihnen umgeht, spaltet das nordafrikanische Land.
Tunesier sind eine der größten Gruppen ausländischer Kämpfer. 2900 von ihnen sind den Behörden laut Innenministerium namentlich bekannt. 800 von ihnen sind demnach nach Tunesien zurückgekehrt. Ein Teil von ihnen sitze im Gefängnis oder stehe unter Hausarrest. Sie sind ein Problem für Tunesien. Es ist kaum festzustellen, was sie in Syrien getan haben. Tunesien brach 2012 die diplomatischen Beziehungen zum Assad-Regime ab.
„Stellen wir uns vor, diese Menschen kommen nach Tunesien zurück“, sagt die Rechtswissenschaftlerin Salwa Hamrouni. „Wir werden sie vor Gericht stellen – dazu haben wir die nötigen Gesetze. Aber wer wird uns die Beweise bringen, um sie zu verurteilen?“
Die Stimmung im Land ist aufgewühlt. Manche sehen es so wie Raschid al-Ghannouchi, Chef der moderaten islamischen Ennahda-Partei. Er ist dafür, die Kämpfer in Tunesien zur Rechenschaft zu ziehen. Der Staat müsse die Verantwortung für seine Landsleute übernehmen. Er bezeichnete den Terrorismus „als ansteckende Krankheit“, deshalb müssten die Rückkehrer psychologisch betreut werden.
Aber die Stimmung im Land ist eine andere. Nicht nur die Proteste im Fall Amri zeigen, dass viele Menschen keine Dschihadisten im Land wollen. Auch viele Politiker sind dieser Meinung. So verlangten etwa Mitglieder der linken Volksfront, die Täter dort vor Gericht zu stellen, wo sie die Verbrechen begangen hätten, und ihnen die tunesische Staatsangehörigkeit zu entziehen. Letzteres verbietet aber die neue Verfassung des Landes aus dem Jahr 2014.
Einige Jahre lang war das Problem weniger virulent. Damals kehrten vor allem jene zurück, die den terroristischen Vereinigungen den Rücken gekehrt hatten. Je mehr aber der IS und al-Qaida in Syrien und dem Irak an Boden verlieren, desto mehr Menschen kehren zurück, die noch aktive Kämpfer sind. Jüngst wurden zudem mutmaßliche tunesische Extremisten aus dem Niger, Sudan, Frankreich und Italien abgeschoben. Und die Debatte in Deutschland darüber wird schärfer.
Zwölf Richter für mehr als 3000 Verfahren
Der Politologe Hamza Meddeb, der am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz forscht, kritisiert die tunesische Politik scharf. „Die tunesischen Politiker sollten mit ihrem Populismus und ihrer Demagogie aufhören und stattdessen Verantwortung übernehmen“, sagte er. „Sie müssen eine Strategie entwickeln, die diesem komplexen, globalen Problem gerecht wird.“ Denn an einer umfassenden Strategie zur Prävention und zum Umgang mit Extremisten fehle es Tunesien.
Bis jetzt setzt die Regierung vor allem auf Repression. Mit einem im Sommer 2015 verabschiedeten Anti-Terror-Gesetz haben Sicherheitskräfte und Justiz bereits sehr weitreichende Möglichkeiten, gegen mutmaßliche Terroristen vorzugehen, allerdings hat das zuständige Gericht gerade einmal zwölf Richter für mehr als 3000 laufende Verfahren.
Dass Tunesien immer noch keine umfassende Präventionsstrategie hat, ist für Meddeb symptomatisch. „Das zeigt, wie langsam das Land in solchen Dingen vorankommt. Die Fortschritte sind den enormen Umbrüchen in der Region nicht angemessen.“ Die Regierung sei dabei, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, die einen großen Teil dazu beigetragen hätten, dass heute überhaupt so viele Tunesier in den Extremismus abgleiten.
Gefängnisse wurden Brutstätten des Islamismus
Diese Probleme reichen viele Jahre zurück. Die hohe Arbeitslosigkeit, die Perspektivlosigkeit der tunesischen Jugend, spiele eine große Rolle. Aber entscheidend seien auch die letzten Jahre der Diktatur – bevor diese im „arabischen Frühling“ 2011 gestürzt wurde. In den Jahren vor 2011 habe der Diktator Ben Ali das Streben der jungen Menschen nach Veränderung brutal unterdrückt.
Mindestens 2000 Personen wurden binnen eines Jahrzehnts wegen Terrorvorwürfen zu Gefängnisstrafen verurteilt. In Haft trafen sie auf die damals noch vergleichsweise geringe Zahl von Extremisten, die in Afghanistan oder im Irak gekämpft hatten. „So wurden die Gefängnisse zum Treffpunkt der verschiedenen Generationen von Dschihadisten, die sich zuvor nicht kannten und die sich normalerweise auch gar nicht kennengelernt hätten“, sagt Meddeb. Die Gefängnisse wurden so zu regelrechten Brutstätten der radikalen Bewegung.
In einer großen Generalamnestie ließ der heutige Präsident Beji Caid Essebsi, damals Chef der Übergangsregierung, kurz nach der Revolution 2011 Tausende politische Häftlinge frei. Darunter waren viele radikale Islamisten, die in den Wirren der Nachrevolutionszeit mehr oder weniger unbehelligt Strukturen aufbauen und neue Mitglieder anwerben konnten.
Anis Amris Weg war komplett anders, der Ablauf seiner Radikalisierung aber ähnlich. Er ging nach bisherigen Erkenntnissen als kleinkrimineller Jugendlicher illegal nach Italien – und radikalisierte sich dort während vier Jahren Haft im Gefängnis.
Tiefe religiöse Verwurzelung ist bei den meisten tunesischen Dschihadisten die Ausnahme. Viel häufiger sind es junge Männer, die am Rande der Gesellschaft leben und sich innerhalb weniger Monate radikalisieren. „Oft ist der Dschihad ein Versuch, einen ehrenwerten Ausweg aus einer Karriere als jämmerlicher Kleinkrimineller zu finden“, sagt Meddeb.
Justizministerium plant Hochsicherheitsgefängnis
Dies bestätigt auch die Psychologin Rim Ben Ismail. Jemand wie Anis Amri „vergesse“ seinen Ausweis nicht im Todestruck vom Breitscheidplatz. „Für ihn ist das die Möglichkeit, wenigstens die letzten 48 Stunden seines Lebens zu existieren.“
Ben Ismail kennt sich aus mit Rückkehrern. Sie leitete für die britische Organisation Reprieve ein Projekt zur Wiedereingliederung tunesischer Ex-Guantánamo-Häftlinge. Neben der Arbeit der Justiz und der Sicherheitsorgane sei die soziale Rehabilitierung und die Einbeziehung der Familien das Wichtigste, um zu verhindern, dass die Extremisten erneut gewalttätig würden. „Man muss ihnen Strukturen geben, in ihre Viertel gehen und mit den Familien arbeiten.“
Ein Rehabilitierungszentrum – wie von einigen Politikern vorgeschlagen – sei der falsche Ansatz. „Das ist keine Waschmaschine, wo man einen schmutzigen Menschen reinsteckt, und dann kommt er geläutert wieder raus.“ Nur wenn man mit ihnen in Dialog trete, bestehe die Möglichkeit einer Deradikalisierung.
Der Politologe Hamza Meddeb mahnt dringend Reformen im religiösen Bereich an. Denn die meisten tunesischen Imame seien über 60 Jahre alt; gerade einmal jeder zehnte hat einen theologischen Hochschulabschluss. „Wir brauchen Imame, die einem radikalen Diskurs argumentativ etwas entgegensetzen können, wenn wir präventiv tätig werden wollen“, sagt Meddeb.
Tunesiens Justizministerium kündigte derweil an, ein neues Hochsicherheitsgefängnis zu errichten. Dort sollen Terrorverdächtige und verurteilte Dschihadisten untergebracht werden – und so will man verhindern, dass sie in den bestehenden und massiv überfüllten Gefängnissen andere Häftlinge anwerben.