Der Nachzug von Ehegatten und anderen Familienangehörigen zu in Deutschland lebenden Ausländern ist im vergangenen Jahr deutlich gestiegen. „In den ersten drei Quartalen sind 2016 weltweit gut 70.000 Visa zum Familiennachzug erteilt worden, darunter ein Großteil für den Familiennachzug zum Schutzberechtigten“, heißt es aus dem Auswärtigen Amt.

Nach „Welt“-Informationen bedeutet dies bereits bis zum September eine Zunahme um 40 Prozent gegenüber dem gesamten Vorjahr. 2015 wurden etwa 50.000 Visa für den Familiennachzug erteilt, 2014 waren es nur etwa 30.000.

Das Bundesinnenministerium und das ihm beigeordnete Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) veröffentlichen zwar regelmäßig Angaben zur Entwicklung der Asylanträge und zu den Registrierungen neu eingereister Schutzsuchender, aber nicht zum Ausmaß des Familiennachzugs. Dieser gilt nicht als Flüchtlingszuzug und wird deshalb nicht in den entsprechenden Statistiken erfasst.

500.000 Syrern könnten genau so viele folgen

Das BAMF weist zwar darauf hin, „beim Thema Familiennachzug nicht der richtige Ansprechpartner“ zu sein. In einem Papier vom Mai hatte das Amt jedoch für die wichtigste Flüchtlingsgruppe prognostiziert, dass pro Syrer statistisch im Schnitt 0,9 bis 1,2 Familienangehörige nachziehen würden. Wenn sich dies bewahrheiten sollte, könnten den seit 2015 eingereisten rund 500.000 Syrern mittelfristig noch einmal genau so viele Angehörige nachfolgen.

Johannes Singhammer
Johannes Singhammer (CSU), Bundestagsvizepräsident

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Der Vizepräsident des Bundestages, Johannes Singhammer (CSU), warnt indes: „Deutschland muss sich darauf einstellen, dass bald wesentlich mehr Menschen über den Familiennachzug kommen als über das Asylverfahren.“ Das Potenzial der Nachziehenden sei „jetzt schon so enorm, dass wir alle Anstrengungen unternehmen sollten, so etwas wie sichere Häfen in den Hauptherkunftsregionen aufzubauen“.

In solchen vom Westen geschützten und von der UN betriebenen Zentren könnten die Familien zusammengeführt werden, bis sich die Lage bessert, erklärt der CSU-Politiker. Das werde schwierig umzusetzen sein, aber die Alternative sei „die Aufnahme von zusätzlich Hunderttausenden Menschen aus anderen Kulturkreisen“.

Besonderer Andrang in Beirut und Ankara

Zwar weise das Bundesverfassungsgericht wie auch das europäische Recht dem Familiennachzug eine wichtige Bedeutung zu, so Singhammer: „Wenn er aber eine Größenordnung erreicht, die über dem normalen Flüchtlings- und Migrantenzuzug liegt, müssen wir uns mindestens damit beschäftigen und meiner Meinung nach auch handeln.“

Aktuell stehen Angehörige von Flüchtlingen immer noch vor dem Problem langer Wartezeiten in den deutschen Auslandsvertretungen, obwohl das Auswärtige Amt die Zahl der mit der Prüfung betrauten Beamten erheblich erhöht hat – vor allem im libanesischen Beirut und der türkischen Hauptstadt Ankara, wo besonders viele Angehörige Visa für den Familiennachzug beantragen.

Safa Abu Kaschif will nach Deutschland. Dort dürfte sie ihre Familie nachholen.
Die Syrerin Safa Abu Kaschif will nach Deutschland und später ihre Familie nachholen

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Das zweite Problem für viele Flüchtlingsfamilien: Die Bundesregierung hat mit dem Asylpaket II ab vergangenen März den Familiennachzug bei als subsidiär schutzberechtigt Anerkannten für zwei Jahre ausgesetzt. Dabei hatte sie erst ein halbes Jahr zuvor den Familiennachzug für diese Gruppe erleichtert: Sie musste zum Beispiel nicht mehr ausreichenden Wohnraum für Familienangehörige nachweisen.

Spekulationen über Zahl der Familienangehörigen

Der subsidiäre Schutztitel genehmigt den Aufenthalt nur für ein Jahr und muss dann wieder verlängert werden. Hierfür reicht es in der Regel aus, aus einem Bürgerkriegsland zu kommen. Drei Jahre Aufenthalt ermöglicht der volle Flüchtlingsschutz nach der Genfer Konvention beziehungsweise nach dem Asylrecht des Grundgesetzes, es ist ausschließlich für individuell politisch Verfolgte vorgesehen.

Als Bürgerkriegsflüchtlinge erhalten mittlerweile die meisten Syrer nur den subsidiären Schutz, zuvor hatte die Bundesregierung die Syrer zeitweise von der Einzelfallprüfung ausgenommen, sodass sie meist den vollen Flüchtlingsschutz bekamen. Nach Ablauf der Aussetzung des Familiennachzugs im März 2018 könnten viele der subsidiär Schutzberechtigten also wieder Antrag auf Familiennachzug stellen.

Auch weil weder das BAMF noch andere Behörden regelmäßig Zahlen zum Familiennachzug veröffentlichen, gedeihen Spekulationen. So gab es mehrfach Berichte, wonach mit zwei bis vier Familienangehörigen pro Flüchtling zu rechnen sei. Regierungsvertreter widersprachen diesen Zahlen ausdrücklich.

Viele sind gar nicht erst verheiratet

Für eine Größenordnung von etwa einem Nachziehenden pro syrischem Flüchtling spricht laut dem betreffenden Papier des Bundesamtes, dass viele entweder schon gemeinsam mit der Familie einreisen oder gar nicht erst verheiratet sind. Zudem wurde von maximal drei Kindern pro Frau in Syrien ausgegangen, eine vergleichsweise geringere Zahl als bei Menschen aus anderen Herkunftsländern beispielsweise in Afrika.

Bislang haben anerkannte Flüchtlinge einen privilegierten Anspruch auf den Nachzug von Familienangehörigen. Für andere Ausländer wurde in Deutschland wie auch in anderen europäischen Staaten im zurückliegenden Jahrzehnt die Familienzusammenführung erschwert. Vor allem weil sich die Einwanderung aus familiären Gründen, vor allem von Ehepartnern, in den meisten Ländern Europas zur größten Kategorie von Neuzuwanderung aus anderen Kontinenten (meist zwischen 40 und 60 Prozent) entwickelt hatte.

https://www.welt.de/politik/deutschland/article160844524/500-000-Syrern-koennten-genau-so-viele-Angehoerige-folgen.html