Noch ist alles nur ein Vorschlag aus Brüssel, der durchgesickert ist. Doch in den Schaltzentralen der deutschen Energiewende schrillen die Alarmglocken, seit die ersten Entwürfe zum sogenannten Winter Package der EU-Kommission bekannt wurden. Denn das Maßnahmenpaket, das am 30. November veröffentlicht werden soll, sieht viele tief greifende Eingriffe der EU-Administration in die nationale Energiepolitik vor.

Unter anderem schlägt die EU-Kommission vor, den Nationalstaaten die Zuständigkeit für den Betrieb ihrer Stromnetze weitgehend zu entziehen. Sogenannte Regional Operational Center oder ROCs sollen dann darüber entscheiden, wo wie viel Netzreserve vorgehalten werden muss oder welche Maßnahmen bei Versorgungsengpässen getroffen werden.

Ein solch weitreichender Eingriff in nationale Kompetenzen löst bei den vier deutschen Übertragungsnetzbetreibern Tennet, Amprion, 50 Hertz und TransnetBW bereits einige Unruhe aus. Zitieren lassen will sich niemand, solange das EU-Papier noch nicht offiziell vorgestellt ist.

Deutschland droht Kontrollverlust bei der Energiewende

Doch auch im Bundeswirtschaftsministerium und in den zuständigen Bundesbehörden organisiert man bereits Widerstand gegen den EU-Vorschlag: Denn durch die Neuverteilung netzpolitischer Zuständigkeiten in Europa droht die Bundesregierung auch die Kontrolle über wichtige Stellschrauben der Energiewendezu verlieren.

Die schriftlichen Überlegungen der EU-Kommission liegen der „Welt“ vor. Demnach sollen die neuen überstaatlichen Netz-Zentren dafür zuständig sein, „Stromknappheiten zu managen“, Kraftwerksparks zu „optimieren“ und die täglich vorzuhaltende Regelenergie zum Ausbalancieren des Stromnetzes zu organisieren. Allesamt Aufgaben, die bislang von den europäischen Stromnetzbetreibern in Kooperation und Eigenregie erledigt wurden. Künftig jedoch sollen die ROCs diese weitreichenden Entscheidungsbefugnisse bekommen.

Strom-Autobahn nun doch unterirdisch – aber teurer

Die 800 Kilometer lange Strom-Autobahn „Suedlink“ soll Strom aus Windenergie vom Norden in den Süden Deutschlands transportieren. Sie wird nun doch unterirdisch verlaufen – dafür aber viel mehr kosten.

Quelle: Die Welt

Für die gelebte Praxis könnte das bedeuten, dass ein Regional Operational Center irgendwo im europäischen Ausland entscheidet, dass Windparks in Deutschland abgestellt werden, wenn zu viel Wind weht. Die gesetzlichen deutschen Vorgaben, wonach zuerst konventionelle Kraftwerke heruntergefahren werden müssen, würden dann nicht mehr automatisch gelten.

Die ROCs könnten auch sogenannte Re-Dispatch-Maßnahmen unterbinden. Mit diesem Instrument griffen die Netzbetreiber bislang in den Kraftwerksbetrieb ein, um einen regionalen Netzengpass zu umgehen. Künftig könnte die EU-Zentrale solche Tricks untersagen und stattdessen direkt das Abstellen von Windparks oder Kraftwerken anordnen – auch wenn dadurch am Ende höhere Netzkosten auf die deutschen Verbraucher zukämen.

Stromnetzbetreiber koordinieren Betrieb schon sehr eng

Die neuen Kompetenzen eines überstaatlichen Stromnetzbetreibers wären damit in Konflikt mit dem Einspeisevorrang für Ökostrom, der in Deutschland gesetzliche Vorschrift ist. Dazu passt, dass die EU-Kommission in einem anderen Teil ihres „Winter-Pakets“ ebendiesen Einspeisevorrang für Grünstrom untersagen will.

Das Bundeswirtschaftsministerium in Berlin wies auf Nachfrage der „Welt“ die Bestrebungen der EU-Kommission zurück: „Eine Übertragung von Entscheidungskompetenzen auf sogenannte Regional Operational Center ist aus Sicht des BMWi nicht erforderlich“, erklärte eine Sprecherin: Auch werde sich die Bundesregierung „für den Erhalt des Einspeisevorrangs im Sinne des technischen Netzvorrangs einsetzen“.

Bei den Stromnetzbetreibern fragt man sich ohnehin, warum die EU-Kommission hier überhaupt tätig werden will. Der europaweite Stromnetzverbund gilt bislang als sehr sicher. Die europäischen Stromnetzbetreiber, einschließlich der vier deutschen, hatten bereits Regional Security Coordinations gegründet und koordinieren ihren Netzbetrieb untereinander sehr eng.

Die Netzbetreiber haben aus dem „Norwegian Pearl“-Vorfall gelernt und alle nötigen Konsequenzen gezogen, heißt es. Im November 2006 war es zu einem europaweiten Teil-Blackout gekommen, nachdem eine Stromleitung über den Fluss Ems wegen der Passage des Kreuzfahrtschiffs „Norwegian Pearl“ abgeschaltet worden war.

EU-Kommission beschneidet Befugnisse ohne Not

Offenbar habe Brüssel nichts aus der Brexit-Entscheidung der Briten gelernt, heißt es bei den Netzbetreibern: Die EU-Kommission macht einfach weiter mit dem unseligen Trend, Befugnisse der Mitgliedstaaten ohne Not zu beschneiden und in Brüssel zu zentrieren. Es werde wohl kaum die Akzeptanz von Energiewende-Maßnahmen erhöhen, wenn künftig etwa Abgesandte europäischer ROCs in deutschen Dörfern und Landkreisen den Bedarf an neuen Hochspannungsleitungen erklären.

Insgesamt herrscht Unverständnis, warum die EU-Kommission ein funktionierendes System völlig auf den Kopf stellen will. „Regionale Kooperation liegt in unserer DNA“, erklärte Klaus Kleinekorte, Technikchef des Netzbetreibers Amprion, jüngst in einem Fachmagazin: Man könne das europäische Stromnetz auch in Zukunft stabil halten „ohne unangemessene Eingriffe in komplexe nationale Verantwortlichkeiten“.

Die deutsche Netz-Community erbost auch, dass die ROCs unter dem harmlos klingenden Namen des „Regionalen“ firmieren – in Wirklichkeit handele es sich um neue, supranationale Institutionen mit weitreichenden Befugnissen. Jeweils ein Regional Operational Center wäre für den grenzüberschreitenden Stromnetzbetrieb mehrerer Mitgliedstaaten verantwortlich. Deutschland würde wohl mindestens mit den Niederlanden, Polen und Tschechien zusammengefasst werden. Und auch das wäre nur eine Vorstufe.

So geht aus den EU-Dokumenten hervor, dass die ROCs nur Vorläufer sein sollen zur Verwirklichung der „langfristigen Vision“ eines einzigen „unabhängigen europaweiten Systembetreibers“.

Auch in der deutschen Netzverwaltung argwöhnt man, dass die Stromversorgung so eher unsicherer werden könnte: Gerade die Aufteilung des europäischen Stromnetzes in mehrere eigenständige Regelzonen trage zum Schutz vor Hacker-Angriffen bei und verhindere, dass sich regionale Stromausfälle europaweit ausbreiten. Eine einzige Netz-Zentrale in Europa sei da womöglich sehr viel anfälliger.

https://www.welt.de/wirtschaft/article159689476/EU-greift-nach-den-nationalen-Stromnetzen.html