Im Sommer ist es brütend heiss, im Winter bitterkalt, und Privatsphäre gibt es keine: Das Leben in Containern in Gaza ist kein Idyll. Seit Jahren warten die Bewohner auf Besserung.
Es ist, als ob die Luft sich verflüssige über den Ruinen. Beissende Hitze fällt herab aus dem Himmel. Die Menschen bewegen sich langsam, als würden sie von einem gierigen Raubtier beäugt, das nur heftige Bewegungen wahrnehmen kann. Dies ist ein düsterer Ort, in all seiner ausgeleuchteten Helle. Hier in Gaza, im Stadtteil Beit Hanun, haben die Israeli im Sommer 2014 das Haus von Samaher al-Masri in Schutt und Asche gelegt. Hier sind Dutzende ihrer Verwandten und Freunde gestorben. Hier leben Samaher und ihr Clan in metallenen Containern, in denen schon geringe Hitze zum Inferno wird. Und hier ist vor zwei Wochen der kleine Majdi, der sechsjährige Sohn Samahers, von einer Eisentür erschlagen worden.
Haltung im Leiden
Vierzig Jahre alt ist Samaher. Die fragile, leise sprechende Frau arbeitet temporär bei der UNRWA, dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten. Kommt sie nach Hause, trifft sie auf 15 Familienmitglieder, die in vier hellbeigen, lottrigen Containern zusammengepfercht sind: Eltern, Grosseltern, Cousins, stets nur eine Armlänge von den andern entfernt, stets in Hörweite, ohne jede Privatsphäre.
Fünf Kinder hatte Samaher, jetzt hat sie noch vier. Wir sitzen im kleinen Hof, zehn Personen lauschen gebannt der Passionsgeschichte Samahers. Auffallend, dieses Bemühen um Haltung im Leiden. Hände falten, Häupter senken sich, grossäugig staunen die Kinder die Fremden an. Aber alles bleibt still. Erst, als Samaher ihr Handy hervorzieht und Filme ihres Buben zeigt, der am Morgen des Tages, an dem er sterben musste, zum ersten Mal in den Kindergarten ging, hört man Schluchzen. Er hatte seine Uniform angezogen, die Freiheit Palästinas besungen, Buketts in Empfang genommen und viel gelacht und gezappelt. «Er hatte sich aufs Leben gefreut», wie Samaher sagt. Weinend streckt sie dem Gast das Handy entgegen. Doch, sagte sie nach einigem Nachdenken. Sie ist froh, dass sie diese Filme hat. Es tut weh, sie anzuschauen. Aber sie würde sie nicht hergeben.
Hierarchien der Schuld
Warum die Tür auf Majdi fiel, wird nicht ganz klar. Ein Mann sagt, sie sei nur notdürftig befestigt gewesen, ein anderer mutmasst, vielleicht sei die Angel durchgerostet gewesen. Es könnte zu weiteren Unfällen kommen bei den Masris. Hier ist alles Improvisation. Wasser wird illegal abgezapft. Die Drähte hängen durch wie Wäscheleinen, schon zweimal standen die Wände unter Strom – ein Wunder, dass niemand umkam. Im Innern der Container steht dicke, feuchte Hitze. Die Decke blättert ab, vor einem halben Jahr ist sie eingebrochen. Durch Ritzen dringt gleissendes Tageslicht. Die Masris versuchen still, das Beste aus ihrer Lage zu machen. Da und dort hängen Bilder: farbintensive Landschaften, Tiere oder Revolutionäres, der Felsendom in Jerusalem. Jetzt, wo es heiss ist, kann man im Freien schlafen. Aber im Winter braucht man die Container dringend.
Wer ist schuld am Tod ihres Sohns? Samaher zögert keine Sekunde. An erster Stelle natürlich Israel, das Land, das ihr Haus zerstörte. Dann die hiesige Bürokratie, die «keine neuen Häuser baut» und nicht die unterstützt, die es nötig haben, sondern Günstlinge und Leute, die zahlen. Und drittens die UNRWA, die ihr Geld nach Auffassung Samahers auch den Falschen gibt: denen nämlich, die Aussicht haben auf ein Haus und die man deshalb nur so lange unterstützen muss, bis sie einziehen. «Wir sitzen schon zwei Jahre hier und werden vermutlich noch lange hier sitzen. Wir hätten es nötiger.» Ein paar Minuten lang kommt das Gespräch auf die Blockade, ihre Hintergründe und auf das Recht der Palästinenser, sich zu wehren. Samaher bleibt auffallend ruhig. Keine Sekunde lang gerät sie in die Nähe jener Militanz, die den Kindern Gazas den Hass auf Israel gleichsam von der Wiege an einimpft. Über die Hamas fällt kein Wort – «Ich bin unpolitisch.» Ihr Mann, der lange nur gequält gebrummt hat, ermannt sich plötzlich. Er bringt den Tod Majdis weder mit Israel noch mit der korrupten Bürokratie in Verbindung, sondern allein mit Gott. «Inschallah.»
Dauerprovisorien
Beit Hanun ist eine jener Gegenden Gazas, die im Sommer 2014 in Schutt und Asche gelegt wurden. Rund 1700 Häuser seien zerstört worden, sagt Samaher. Heute lebten 250 Familien aus Beit Hanun in Containern. Es sind keine soliden, für extreme Bedingungen gebaute Schiffscontainer, die die UNRWA zur Verfügung gestellt hat, sondern in Gaza selber ad hoc zusammengeschweisste Kisten, die an den Ecken bereits wieder auseinanderfallen. Gedacht waren sie als Provisorium für sechs Monate, heute sind sie schon seit zwei Jahren das feste Zuhause der Masris. In Gaza leben laut Uno-Angaben noch 3 Prozent der rund 75 000 Menschen ohne Wohnstätte in «vorfabrizierten Wohneinheiten», also rund 2250 Personen.
In Kusa’a, ganz im Südosten des Gazastreifens, legt der kleine Ahmad Najar sein feuchtes Händchen in die Hand des Reporters und sagt: «Ja, hier gefällt’s mir.» Grinsen aus mindestens zehn Gesichtern: Nein, so stand es nicht im Skript. Auch die Najars leben im Container, 11 Personen teilen sich hier 45 Quadratmeter, und natürlich ist das Leben auch hier nicht schön. Doch Kinder haben ihre eigenen Prioritäten, und gerne zeigt der kleine Ahmad, was ihm Freude macht, die Tiere. «Hier, das ist dumm, das will nicht fressen.» Sechs Schafe haben die Najars, sie leben in einem Gehege neben dem Container. Das dumme Schaf steht abseits und blickt traurig, die andern beäugen es nachdenklich kauend. Nebenan scharren Hühner, ein nervöser Hahn schimpft vor sich hin. Die Hühner legen Eier, die isst Ahmed gerne. Vor dem Container wachsen Pfefferminze und Salbei.
Ein falsches Idyll
Unsere Gastgeberin ist Anwar al-Najar, eine junge Frau, die für das «House of Future» arbeitet, eine lokale Nichtregierungsorganisation. Anwar ernährt mit ihrem Verdienst alle elf Menschen hier, auch ihren Bruder Manhal, der mit Frau Raida und fünf Kindern hierhergezogen ist. Es ist jetzt nicht mehr heiss. Im Schatten des Trümmerhaufens, der einst das Heim der Najars war, schlürfen wir süssen Tee und betrachten süsses Gebäck. Die Kinder spielen. Der Fernseher murmelt, gespeist wie der Ventilator und der Kühlschrank aus abgezapftem Strom. Die Sonne bringt das Holz zum Leuchten wie in einem alpinen Chalet, und da ist er auch schon, dieser kurze Moment, der sich einschleicht wie ein Dieb und mit sich dieses Wort bringt, das so gar nicht hierher gehört: Idylle.
Doch dies ist keine Idylle, sondern eine Art soziale Folterkammer, die Vorhölle Gazas. Nichts hier ist gut. Die Tiere helfen beim Überleben, jeder hier weiss, dass Kleinzoos neben dem Esstisch unhygienisch sind. Schlangen schauen gerne vorbei, jüngst fand sich eine ägyptische Kobra neben einem schlafenden Kleinkind. Anwars Vater sitzt zitternd in seinem Stuhl, eines der Mädchen tupft ihm den Speichel von den Lippen und wärmt ihm die Hände. «Der Krieg, die Bomben, sie haben ihn nervenkrank gemacht», sagt Raida. Die Hoffnung auf ein neues Haus haben die Najars aufgegeben. Die zuständige Kommission, in der Vertreter des Wohnbauministeriums und Mitarbeiter der UNRWA sitzen, ziere sich, sagen Anwar und Raida übereinstimmend. Sie möchte Dokumente sehen, die beweisen, dass hier ein Haus stand und dass es den Najars gehörte. Doch diese Dokumente seien mit dem Haus zerstört worden.
Gaza und Westjordanland in Zahlen
■ Einwohner pro Quadratkilometer: 735
■ Benzinpreis in Franken: 1.76
■ Internetnutzer pro 100 Einwohner: 54
■ Mobiltelefonanschlüsse pro 100 Einwohner: 72
■ Alle Länder im Vergleich
Teure Holzcontainer
Der Container ist aus Holz gebaut, das gibt ihm seinen trügerischen Charme. Was sich auf den ersten Blick ausnimmt wie die Arvenhelle eines Laura-Ashley-Idylls, ist nackte Überlebensstrategie: Da die ausrangierten Schiffscontainer und die eilig aus Eisen gebauten Behausungen die Menschen aus den mehr als 20 000 zerstörten Wohneinheiten in Gaza irgendwann einmal nicht mehr aufnehmen konnten, behalf man sich mit Holzcontainern, von denen es in Kusa’a heute mehr als 200 gibt. Mehrere Mythen umranken diese Behältnisse. Sie sind teuer, nicht billiger als Metallcontainer; einer kostet über 5000 Dollar. Im Winter friert man in ihnen ebenso, im Sommer schützen sie kaum gegen die Hitze, zumal die Dächer aus Wellblech sind. Bezahlt worden sind die Container von einer amerikanischen Hilfsorganisation, das zum Bau benötigte Holz hat eine israelische Firma geliefert. Im August 2015 hatte die Cogat, die israelische Koordination der Regierungsaktivitäten in den Territorien, die Lieferung von Brettern mit einer Dicke von mehr als einem Zentimeter verboten, da sie kriegerische Zweckentfremdung, «Dual Use», befürchtete. Im Oktober wurde diese Restriktion wieder fallengelassen. So sind die Najars zu ihrem hölzernen Heim gekommen.
Kein Idyll also. Und was die Sache für die Najars noch schlimmer macht, ist der Anblick der properen Reihenhäuser dreihundert Meter weiter, die die Katarer aus dem Boden gestampft haben. Die Welt, auch die arabische, hat die Palästinenser im Stich gelassen. 5,4 Milliarden Dollar Hilfe wurden Gaza 2015 an der Kairoer Donatoren-Konferenz versprochen; die Einzigen, die sich an das Versprechen erinnern, sind die Katarer und, mit Teilamnesie, die Saudis und Kuwaiter. Das katarische Vorzeigeprojekt in Gaza ist Hamad City, benannt nach Scheich Hamad bin Kalifa Al Thani. Doch auch in Kusa’a haben die Katarer Häuser hingestellt. Für die Najars sind sie Hohn und Verlockung zugleich. Sie sei eine Braut, sagt Anwar, also wünsche sie sich Dinge. Genau wie der Unternehmer Bashar al-Masri in Rawabi bei Ramallah bieten auch die Katarer den Mietern die Möglichkeit, ihre Grundrisse selber zu wählen. Anwar täte es gerne. Sie tut es bereits, für sich, wenn sie alleine ist.
Er war vom Drehbuch abgewichen, der kleine Ahmed, als er sich erfreut gezeigt hatte über seine Behausung. Er ist ein Kind, man sah es ihm nach. Doch natürlich gibt es Skripte in Gaza. Die Hamas weiss genau, was Fremde in ihrem Reich tun, sie beaufsichtigt sie mit demselben Eifer wie die chinesischen Kommunisten, wenn auch gewiss nicht mit derselben Effizienz. Und sie schreibt gerne Skripte. Die Masris und die Najars zum Beispiel sind die klassischen Vorzeigefamilien, schon eine kleine Google-Recherche bringt es an den Tag. Gewisse Motive tauchen öfter auf, die Geschichte mit der Kobra etwa erzählen nicht nur die Najars, sondern auch die Masris und andere. Vieles klingt repetiert, etliches erdichtet. Das ist unnötig und töricht, die Not hier ist echt, sie braucht keine Geschmacksverstärker. Die UNRWA nimmt übrigens die Klagen der Menschen in Gaza nicht auf die leichte Schulter. Ihr Sprecher Christopher Gunness sagte der NZZ, dadurch, dass Tausende von Mitarbeitern der Organisation in Gaza tätig seien, verkörpere die UNRWA gewissermassen die internationale Gemeinschaft. Und die habe die Menschen in Gaza «in so vieler Hinsicht bitter enttäuscht».
Vier Wände auf fünf Kontinenten
Mit dieser Sommerserie blicken wir während gut zwei Monaten in die Stuben dieser Welt. Wir besuchen Menschen dort, wo sie zu Hause sind und machen uns Gedanken darüber, was verschiedene Wohnformen über eine Gesellschaft aussagen. Alle kommenden Beiträge finden Sie auf unserer Übersichtsseite zur Serie. Am nächsten Samstag ist unser London-Korrespondent zu Gast auf Hausbooten auf der Themse.
http://www.nzz.ch/international/wohnserie/vier-waende-auf-fuenf-kontinenten-leben-im-container-ld.105350