Die Touristen bleiben aus, der IS wird aktiver. Der türkische Präsident gerät in die Defensive – und kann sich internationale Isolation nicht mehr leisten. Das zwingt ihn zu zwei Entscheidungen.
In der Türkei mag ihn die Hälfte der Bevölkerung fanatisch verehren, im Rest der Welt ist Recep Tayyip Erdogan so beliebt wie der pausbäckige Schlägertyp, um den auf dem Schulhof alle einen großen Bogen machen.
Diese Isolierung hat mit Erdogans Innenpolitik zu tun; seinem autoritären Regime der erneuten Eskalation des Kriegs in den kurdischen Gebieten. Doch sie ist auch der Art geschuldet, wie die Türkei in den vergangenen Jahren Außenpolitik betrieben hat.
Da war Erdogan, der die ruppigen Umgangsformen des Werftenviertels Kasimpasa, in dem er aufgewachsen ist, in die Diplomatie trug und der dazu neigt, die Außenpolitik als Instrument der Innenpolitik zu benutzen.
Und da war der frühere Premier Ahmet Davutoglu, dessen lächelnde Art manche im Westen mit einer „besonnenen Politik” verwechselten. Tatsächlich aber war Davutoglu der Chefideologe der neoosmanischen Außenpolitik gewesen.
Nach und nach gingen die Erdogans Partner auf Distanz
Dieses Duo führte die Türkei in die Einsamkeit, die sich nicht zuletzt auf dem syrischen Schlachtfeld zeigte, wo die Türkei lange Zeit jeden unterstützte, der mit Koran und Kalaschnikow gegen Assad und die syrischen Kurden kämpfte. Nach und nach gingen die internationalen Partner, von Bosnien und Katar abgesehen, auf Distanz – bis Angela Merkel im Zuge der Flüchtlingskrise und mitten im türkischen Wahlkampf anreiste und sich auf einem goldenen Stuhl vorführen ließ.
Für Erdogan war die mit dem Flüchtlingspakt verbundene internationale Aufwertung mindestens so wertvoll wie die Gelder aus der EU und die Visumfreiheit für türkische Staatsbürger. Doch durch die Affäre um das Schmähgedicht von Jan Böhmermann und der Völkermordresolution des Bundestages wurde das Verhältnis zu Deutschland bald wieder getrübt.
Eine der Folgen dieser Isolation zeigt sich derzeit in den touristischen Zentren: Wo sonst in dieser Jahreszeit die Urlauber Handtuch an Handtuch in der Sonne liegen, herrscht gähnende Leere. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres kamen so wenige Urlauber wie seit 1994 nicht mehr. Gäste aus Israel fehlen seit Mai 2010, als die israelische Armee eine Hilfsflottille nach Gaza auf hoher See aufhielt und auf dem Schiff „Mavi Marmara” neun Türken starben; die Russen bleiben seit dem Abschuss eines Kampfjets im November 2015 fern.
Dieses außenpolitische Desaster war einer der Gründe, weshalb Erdogan den Sturz seines Premiers Davutoglu betrieb – um alle Verantwortung auf ihn abzuwälzen.
Ein wichtiger Schritt erfolgte am Mittwoch: ein Telefongespräch zwischen Erdogan und dem russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin. Zuvor hatte Erdogan schriftlich wie mündlich sein Bedauern über den Abschuss ausgedrückt. Putin reichte dieses „Sorry” offenbar aus.
Am Mittwoch telefonierten beide erstmals seit dem Abschuss. 45 Minuten, ein „konstruktives Gespräch”, wie der Kreml wissen ließ. Die Folgen waren sogleich spürbar: Putin verfügte, die Einschränkungen für russische Türkeiurlauber aufzuheben und den Handel und die Wirtschaftsbeziehungen zu normalisieren. Am Freitag kommt der türkische Außenminister nach Sotschi, und bald sollen sich Putin und Erdogan treffen.
Auch Putin braucht Verbündete
In Putins Lesart hat er den Streit zwischen zwei Machos gewonnen. „Ankara hat sich für den abgeschossenen russischen Jet entschuldigt”, betonte er am Donnerstag. Ein langfristiger Konflikt mit der Türkei lag nicht in seinem Interesse, schließlich ergeht es ihm ähnlich wie Erdogan: Auch seine Verbündeten sind rar. Und wirtschaftlich ist die Abhängigkeit ebenso groß wie wechselseitig: Russland liefert Gas, die Türkei Lebensmittel, türkische Baufirmen sind im großen Umfang in Russland tätig.
Die Interpretation des Wortes „Entschuldigung” begleitet auch den anderen bilateralen Konflikt, dessen Lösung Vertreter beider Seiten am Montag in Rom vereinbarten: das Verhältnis zu Israel. Kritiker in Israel, darunter der Oppositionsführer und sogar einige Minister, behaupteten zwar, die Zahlung von rund 20 Millionen Dollar Entschädigung an die Hinterbliebenen der „Mavi Marmara”-Toten stelle einen „gefährlichen Präzedenzfall” dar.
Zudem schmälere Netanjahus offizielle Entschuldigung die „nationale Ehre”. Doch die meisten Kommentatoren sehen darin unvermeidliche taktische Zugeständnisse, während die Errungenschaften strategischer Natur sind: Ankara ließ von der Forderung ab, die Blockade Gazas zu beenden. Die Türkei wird Klagen gegen israelische Politiker und Militärs gesetzlich verhindern. Und die Aktivitäten des militärischen Armes der Hamas in der Türkei werden eingestellt.
Türkei und Israel normalisieren ihr Verhältnis
Ganz anders die Interpretation in der Türkei: Während Erdogans engste Verlautbarungsorgane wie „Sabah” ihn dafür feierten, die Blockade von Gaza aufgehoben, ja Israel „in die Knie gezwungen” zu haben, kritisierten islamistische Blätter wie „Yeni Akit” und „Yeni Safak” das Abkommen.
Dass Erdogan nun über die antiisraelischen Ressentiments seiner Anhänger hinweggeht, hat strategische Gründe: Israel, Griechenland und die Putschisten-Regierung in Ägypten sind zusammengerückt, zugleich wächst mit dem Iran ein gemeinsamer Gegner in der Region heran.
Natürlich geht es auch um beidseitige wirtschaftliche Interessen. Und schließlich gibt es mit dem IS einen gemeinsamen Feind, dessen Gefährlichkeit für die Türkei nach dem Anschlag in Istanbul noch einmal deutlich geworden sein dürfte.
Manche hatten gar die Hoffnung, dass sich diese neue Realpolitik noch in der laufenden Tourismussaison positiv auswirken könnte. Bis am Dienstagabend drei Männer am Atatürk-Flughafen aus einem Taxi stiegen.
http://www.welt.de/politik/ausland/article156724489/Warum-Erdogan-ploetzlich-auf-der-Suche-nach-Freunden-ist.html