Die Schweiz ist längst kein ausschliesslich christliches Land mehr. Immer mehr Kantone machen sich deshalb daran, die Rechte der Landeskirchen auf weitere Religionsgemeinschaften auszuweiten.

Werden Moscheen den Kirchen eines Tages gleichgestellt sein? Nach den Kantonen Basel-Stadt und Waadt hat Neuenburg als dritter Kanton ein Gesetz vorgelegt, welches nichtchristlichen und nichtjüdischen Religionsgemeinschaften die Möglichkeit gibt, sich als Institutionen von öffentlichem Interesse anerkennen zu lassen. Angestrebt wird dieser Status namentlich von den Muslimen. Im Gegensatz zur christlichen ist die muslimische Glaubensgemeinschaft im Wachsen begriffen. Der Gesetzesentwurf ist diesen Frühling in die Vernehmlassung geschickt worden und wird voraussichtlich im Herbst vom Grossen Rat verabschiedet. In der Waadt und in Basel-Stadt sind die Gesetze bereits in Kraft.

Ein Strauss von Privilegien

Was aber bedeutet Anerkennung konkret? Je nach Kanton bringt dieser Status mehr oder weniger Privilegien (und Pflichten) mit sich. So hat etwa Basel-Stadt 2012 den Aleviten die sogenannte «kleine Anerkennung» gewährt, die vor allem symbolischen Charakter hat. Der Kanton anerkenne damit, dass eine Religionsgemeinschaft viel für die Gesellschaft leiste, schrieb der Regierungsrat damals in seiner Botschaft an den Grossen Rat. Nicht zuletzt soll die Anerkennung die Integration fördern. In diesem Sinne sind die Bestrebungen der Kantone auch ein Bekenntnis zu einer multireligiösen Schweiz. Die weitreichendsten Rechte sieht der Kanton Neuenburg vor:
■ Seelsorge. Imame sollen etwa das Recht erhalten, Häftlinge im Gefängnis und Kranke im Spital zu besuchen. Heute nehmen sie diese seelsorgerischen Pflichten zwar punktuell wahr, haben aber nur einen Besucherstatus.
■ Religionsunterricht. Die muslimische Gemeinschaft dürfte an den öffentlichen Schulen Religionsunterricht erteilen.
■ Steuerbefreiung. Als gemeinnützige Institution wäre die Religionsgemeinschaft steuerbefreit.
■ Steuerhoheit. Die muslimische Gemeinschaft dürfte über die Steuererklärung bei ihren Mitgliedern eine freiwillige Steuer eintreiben – analog zur Kirchensteuer für die christlichen Religionsgemeinschaften.

Nicht mit der Anerkennung verknüpft wird im Kanton Neuenburg das Recht auf muslimische Grabfelder, da die Friedhofsordnung in die Kompetenz der Gemeinden fällt. Abgesehen wird ferner davon, mithilfe der Anerkennung automatisch das Recht auf Subventionen zu verleihen. In diesem Punkt weicht der Kanton Neuenburg mit Verweis auf die historisch gewachsene Sonderstellung der christlichen Kirchen vom Prinzip der Rechtsgleichheit ab. Schliesslich werden die römisch-katholische, die christkatholische und die evangelisch reformierte Kirche gemeinsam mit rund einer Million Franken pro Jahr subventioniert. Auch im Kanton Waadt bleiben gewisse Privilegien weiterhin den zwei öffentlichrechtlich anerkannten Kirchen – der römisch-katholischen und der evangelisch-reformierten Kirche – vorbehalten. Sie erhalten gemeinsam jährlich rund 60 Millionen Franken vom Kanton.

Für die muslimische Gemeinschaft ist die Anerkennung wichtig, um sich als Teil der Schweizer Gesellschaft zu fühlen. Dieses staatliche Gütesiegel sei aber nicht als «Geschenk» an die Muslime zu verstehen, sagt Pascal Gemperli von der Waadtländer Union der muslimischen Vereine (Uvam). Die Anerkennung gehe auch mit Pflichten einher. Die Uvam ist die grösste muslimische Glaubensgemeinschaft der Waadt. Sie vertritt 18 Moscheen und damit rund 80 Prozent der Waadtländer Muslime gegenüber dem Kanton. Ihr Gesuch um kantonale Anerkennung wird die Uvam voraussichtlich 2017 einreichen.

Weder in der Waadt noch in Neuenburg oder Basel-Stadt wird die Anerkennung bedingungslos verliehen. Will eine Religionsgemeinschaft dieses Gütesiegel erhalten, gilt es, bestimmte Kriterien zu erfüllen und Garantien abzugeben: Die Glaubensgemeinschaft muss die Menschenrechte und den Religionsfrieden respektieren. Sie muss ihre Finanzierung offenlegen, seit einer Mindestanzahl Jahre präsent sein und ihren Sitz im Kanton haben. Im Kanton Waadt wird ferner explizit festgehalten, es gelte zu respektieren, dass die Polygamie verboten und eine Heirat nur gültig sei, wenn sie zivil vollzogen werde.

Anerkennung von Glaubensgemeinschaften
«Wir Muslime gehören dazu»
von Andrea Kucera

Die Anerkennung nichtchristlicher und namentlich muslimischer Glaubensgemeinschaften ist ein heikles Unterfangen. Es gibt Stimmen unter den Muslimen, die davon abraten, ein Gesuch einzureichen – aus Angst, das Begehren könnte abgelehnt werden. Wie brisant die Sache ist, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die Anerkennung selbst dort für Zündstoff sorgt, wo sie gar kein Thema ist: In ihrer Neujahrsansprachesagte die Freiburger Staatsratspräsidentin Marie Garnier, sie wünsche sich, dass die Rechte der muslimischen Glaubensgemeinschaft, namentlich in Bezug auf die Seelsorge, den Religionsunterricht und die Bestattung, nächstens einer Prüfung unterzogen würden. Der SVP-Kantonsrat Nicolas Kolly reichte daraufhin einen parlamentarischen Vorstoss ein und wollte wissen, ob Marie Garnier im Namen des Gesamtstaatsrates gesprochen habe und die Regierung etwa vorhabe, die muslimische Glaubensgemeinschaft öffentlichrechtlich anzuerkennen, und ob der Kanton den Gemeinden folglich muslimische Grabfelder aufzwingen wolle. Die offizielle Antwort des Staatsrates steht noch aus. Auf Anfrage erklärt Samuel Russier, Generalsekretär der zuständigen Direktion, die Aussagen der Staatsratspräsidentin seien genereller Natur gewesen – im Sinne eines interreligiösen Dialogs. Eine kantonale Anerkennung der muslimischen Gemeinschaft werde derzeit von niemandem angestrebt.

Frist soll Integration dienen

Bis die erste Schweizer Moschee als Institution von öffentlichem Interesse anerkannt wird, wird noch manches Jahr ins Land ziehen. Bewusst sehen die Gesetze in den Kantonen Waadt und Neuenburg eine fünfjährige Zeitspanne für die Beantwortung eines Gesuches einer Glaubensgemeinschaft vor. Diese Frist soll einerseits von den Gesuchstellern genutzt werden, um sich besser bekannt zu machen. Anderseits erhält die Bevölkerung Zeit, sich an den Gedanken von kantonal anerkannten Moschee-Vereinen zu gewöhnen.

Genf will keine Religionsgemeinschaft mehr anerkennen

Ein Sonderzüglein in Bezug auf die Anerkennung von Glaubensgemeinschaften fährt der Kanton Genf: Er will künftig keine Religionsgemeinschaft mehr anerkennen. Im Rahmen des neuen Laizismusgesetzes, das derzeit von der Menschenrechtskommission des Grossen Rates vorberaten wird, ist also vorgesehen, dass auch die christlichen Kirchen ihren Sonderstatus verlieren. Kirche und Staat noch konsequenter als bis anhin zu trennen, heisst aber nicht, die Zusammenarbeit zu sistieren. «Keine Religionsgemeinschaft anerkennen heisst de facto, alle Glaubensgemeinschaften anerkennen», sagt der stellvertretende Generalsekretär des zuständigen Departementes, André Castella. Es sei aber zu komplex und zu abstrakt, eine Liste zu führen mit den anerkannten Religionsgemeinschaften. Stattdessen werde die Zusammenarbeit künftig anhand von konkreten Problemen oder Projekten definiert.

Als Beispiel nennt Castella die Seelsorge in den Gefängnissen oder die Erhebung einer freiwilligen Kirchensteuer. Gegen ein Entgelt können künftig alle Religionsgemeinschaften, und nicht nur die Katholiken und Reformierten, diese Aufgabe an den Staat delegieren. Die Debatte im Grossen Rat wird voraussichtlich im Herbst stattfinden.

http://www.nzz.ch/schweiz/muslime-in-der-schweiz-der-islam-auf-der-suche-nach-anerkennung-ld.84292