Dieses Porträt der ESC-Siegerin unserer Autorin Julia Smirnova wurde am 20.April das erste Mal veröffentlicht. Lesen Sie hier noch einmal die Geschichte von Jamala, die mit ihrem Song die Geschichte ihrer Urgroßmutter erzählt.
Jamala kann nicht still sitzen. Sie schlägt mit der Hand auf den Tisch, greift sich in die schwarzen Haare. Sie erzählt von ihrer Familie. Und dabei kommen ihr schnell die Tränen.
Erzählt sie dagegen von ihrem letzten Auftritt, überschlägt sich ihre Stimme vor Begeisterung. Wie in der Royal Albert Hall in London sei es gewesen. So schön fand sie die Philharmonie von Odessa, so herzlich das Publikum. „Noch nie in meinem Leben habe ich so viele Blumen bekommen.”
Es war das erste Konzert, das Susana Dschamaladinowa, Künstlername Jamala, 32, gegeben hat, seit sie ausgewählt wurde, für die Ukraine beim Eurovision Song Contest (ESC) anzutreten. Ihr Lied „1944” sang sie dort als Zugabe. Viele Menschen kamen anschließend zu ihr und bedankten sich dafür. Das Lied beschreibe genau ihre Familiengeschichte, sagten sie.
Mit dem Deportierten-Lied „1944” zum ESC
Doch „1944” hat nicht nur bei Jamalas Fans für Aufsehen gesorgt. Russland protestierte offiziell, das Lied verletze die Regeln des Wettbewerbs, es politisiere. Die Europäische Rundfunkunion in Genf ließ es daraufhin prüfen und kam zu dem Schluss, weder Titel noch Text enthielten eine politische Botschaft, der Song stünde nicht im Widerspruch zu den Regeln des Wettbewerbs.
Tatsächlich aber rührt „1944” an alte Wunden. Es ist das Jahr, in dem die Krimtataren deportiert wurden. Von den rund zwei Millionen Bewohnern der Krim, die mehrheitlich russische Wurzeln haben, gehören etwa 300.000 dem muslimischen Turkvolk der Tataren an. Unter Josef Stalin wurden diese als „Nazi-Kollaborateure” verfolgt und im Mai 1944 innerhalb weniger Tage nach Zentralasien zwangsumgesiedelt. Fast die Hälfte der 240.000 Deportierten kam ums Leben. Erst zum Ende der Sowjetunion durften die Überlebenden in ihre Heimat zurückkehren.
Jamala erzählt in ihrem selbst komponierten Lied die Geschichte ihrer Urgroßmutter. Am 18. Mai 1944 war Nasylchan mit fünf Kindern aus ihrem Haus im Dorf Kutschuk Osen auf der Halbinsel Krim geholt und auf eine Reise geschickt worden, die nur die Stärksten überlebten. Die einzige Tochter war nicht stark genug, ihre Leiche wurde vor den Augen der Mutter wie Müll aus dem Zug geworfen.
„Wir mussten uns alles auf der Krim erkämpfen”
Jamala erzählt, wie sie versucht hat, sich diese junge Mutter vorzustellen, den Schock, ihren Schmerz, und sie fragt sich, wie sie das nur ausgehalten hat.
Nasylchan überlebte, ebenso wie ihre vier Söhne, die alle später auf die Krim zurückkehrten. Nasylchan selbst gelang das nicht mehr, sie starb 1992. „Ich habe sie als eine unglaublich starke Frau in Erinnerung.” Gemessen am Leben ihrer Urgroßmutter, erscheinen Jamala die eigenen Probleme und die ihrer Generation nichtig.
Dabei war auch ihr Leben und das ihrer Eltern nicht immer einfach. Anfang der 90er-Jahre war sie mit ihnen ins Dorf ihrer Vorfahren zurückgekehrt, sie gehörten zu den ersten Rückkehrern unter den Krimtataren. Kutschuk Osen hieß längst russisch Maloretschenskoje. Die Angst der Dorfbewohner vor ihnen, geschürt durch Propaganda, war groß, „Sie fürchteten, die Krimtataren würden ihr Eigentum zurückfordern.” Die Eltern mussten sich formell scheiden lassen, damit Jamalas Mutter, eine Armenierin, ein Haus kaufen konnte. Jamalas Vater, dem Krimtataren, hätte niemand irgendetwas verkauft. In ihrer Klasse war Jamala die einzige Krimtatarin, und schon die Kinder erzählten sich Schauergeschichten über das Turkvolk. Es war nicht leicht.
Die Familie steckte das gesamte Geld in den Traum vom eigenen Haus in der alten Heimat. Seit Jamala neun war, jobbte sie in Cafés, spülte Geschirr, um Geld zu verdienen. „Wir mussten uns alles auf der Krim erkämpfen.”
„Es gab keinen einzigen Tag ohne Musik bei uns zu Hause”
Doch ihre Kindheit sei nicht nur vom Kampf gegen Diskriminierung geprägt gewesen, sagt sie, sondern auch von Musik. Die Mutter unterrichtete Klavier an der Musikschule, der Vater war Chordirigent. „Es gab keinen einzigen Tag ohne Musik bei uns zu Hause.” Klassische Musik, Bach und Rachmaninow, das waren die Lichtgestalten der Mutter. Jazz und Funk – Nina Simone, Ella Fitzgerald, Billie Holiday, James Brown – die des Vaters. Oft spielte er auch krimtatarische Lieder auf dem Akkordeon. Nina Simone, sagt Jamala, sei bis heute eine große Inspiration.
Als Jamala mit 17 Jahren ihrer Lehrerin sagte, sie wolle am Konservatorium in Kiew studieren, antwortete diese nur: „Dann solltest du aber deinen Nachnamen ändern.” Jamala war geschockt. Ausgerechnet die Musiklehrerin, die sie seit Jahren kannte, konfrontierte sie mit den alten Vorurteilen gegenüber den Krimtataren. Jamala änderte ihren Namen nicht und bekam trotzdem den Platz. „In Kiew begann dann meine Freiheit.” Sie sang Opernarien, Jazz und wurde schnell in der ukrainischen Hauptstadt bekannt. Dass sie Krimtatarin ist, fanden die Menschen nicht mehr abschreckend, sondern interessant. In jedem ihrer Alben hat sie ein Lied auf Krimtatarisch als Bonus-Track aufgenommen.
Auch in Stockholm wird sie auf Englisch und Krimtatarisch singen. Zurzeit bereitet sie ihre Show vor, aber im Vordergrund stehe ihr Lied. „Es ist wie bei den Olympischen Spielen, man muss sich konzentrieren, um nicht den richtigen Zustand, die richtige Emotion zu verlieren.” Ihr Ziel ist es, für die Ukraine zu gewinnen, das ist ihre Mission. „Es ist meine Chance, in Europa zu erzählen, dass wir es nicht einfach haben, aber nicht aufgeben und weiterkämpfen.” Keine Nationalität sei schließlich besser als die andere. Nach der Orangenen Revolution 2004 hatte die ukrainische Sängerin Ruslana beim ESC gewonnen. Jamala hofft, deren Erfolg zu wiederholen.
Jamalas Gelassenheit gegenüber russischen Protesten
Der Protest Russlands überrascht daher nicht, zumal die Krimtataren sich gegen den Anschluss an Russland ausgesprochen hatten. Dutzende krimtatarische Aktivisten wurden seither verhaftet und eingeschüchtert.
Ich hoffe, dass alle intelligenten Menschen in Russland mich verstehen werden
Jamala reagiert auf die russischen Proteste gelassen. Schließlich sei ihr Song eine Geschichte, die Menschen jeder Nationalität verstünden, alle, die selbst unterdrückt werden oder deren Vorfahren es wurden. In der Sowjetunion seien sehr viele Familien davon betroffen, nicht nur Krimtataren, sagt sie. „Ich hoffe, dass alle intelligenten Menschen in Russland mich verstehen werden.” Bislang habe sie von der Krim nur positive Reaktionen gehört.
Vor zwei Jahren, als auf der Krim russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen auftauchten, war sie in Kiew. Es war die Zeit nicht nur der Revolution, sondern auch der Kiewer Fashion Week, und viele ukrainische Designer wollten Jamala auf dem Laufsteg sehen. Sie sagte alles ab, sie war zu beschäftigt mit dem, was auf der Krim passierte. Im Sommer 2014 besuchte sie ihre Heimat zum bislang letzten Mal. Sie sah ihre Verwandten, den Garten mit den Nuss-, Feigen- und Granatapfelbäumen. So viel hatten sie alle für das Haus und den Garten geopfert, dass es für ihre Familie nicht zur Diskussion stand, die damals von Russland annektierte Halbinsel erneut zu verlassen. Die Eltern kommen jetzt regelmäßig nach Kiew, um Jamala zu besuchen. Sie selbst will nicht mehr dorthin fahren – aus Angst, dass die neuen Machthaber ihren Besuch als Zeichen der Unterstützung ihrer Politik missbrauchen könnten.
http://www.welt.de/vermischtes/article154543112/Die-Krimtatarin-die-Russland-mit-Musik-provoziert.html