Wer kann Recep Tayyip Erdogan noch stoppen? Niemand, so scheint es. Kritik und Drohgebärden verpuffen. Aber eine Schwachstelle hat auch der türkische Präsident – und die hat mit Deutschland zu tun.

Er hat sie alle vorgeführt. Angela Merkel, die ihm in der Flüchtlingsfrage ausgeliefert ist. Die Europäische Union, die sich gezwungen sieht, ihm eine Visa-Freiheit für alle Türken zu gewähren. Sogar sein Premierminister, der zumindest teilweise nicht ganz seiner Meinung war, hat den Posten geräumt. Und selbst Wladimir Putin wurde in gewisser Weise vorgeführt, weil Erdogan nicht vor ihm kuschte – wie das sonst alle anderen tun.

Es scheint, als könne niemand dem „neuen König von Europa”, wie der türkische Präsident bereits genannt wird, etwas entgegensetzen.

Doch inmitten seines politischen Triumphzuges offenbart sich Erdogans wahre Schwäche. Denn sein Land ist ökonomisch verwundbar. Es muss mehr Energie und Produkte einführen, als es exportiert, und ist daher auf anhaltend hohe Devisenzuflüsse angewiesen. Eine wichtige Einnahmequelle war dabei bislang der Tourismus. Er macht zwar lediglich sechs Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Allerdings stellt er Jobs für mehr als acht Prozent der Türken und ist ein wichtiger Devisenbringer für das Land. Und dieser ist abrupt weggebrochen.

Die wachsende Terrorgefahr und Erdogans Auftritte als politischer Hasardeur lassen die Zahl der ausländischen Touristen von Monat zu Monat deutlich sinken. Allein im März kamen fast 13 Prozent weniger Besucher ins Land als noch vor einem Jahr. Es war der achte Monat in Folge mit rückläufigen Zahlen und gleichzeitig der stärkste Einbruch seit fast eine Dekade.

Das liegt vor allem daran, dass ausgerechnet die beiden wichtigsten Gäste-Nationen in den Türkei-Boykott getreten sind – nämlich Russland und Deutschland. Deutsche und Russen bilden mit zusammen mehr als neun Millionen Touristen den mit Abstand größten Teil der Urlauber.

Buchungseinbruch um 40 Prozent

Dabei lief es so gut für den Urlauber-Hotspot Türkei. Noch im Juli 2015 vermeldete die einheimische Statistikbehörde einen Rekordmonat mit 5,48 Millionen ausländischen Besuchern. Nachdem Nordafrika als sicheres Sonnenland wegen der nicht enden wollenden Terrorgefahr als touristisches Ziel nicht mehr infrage kam, galt die Türkei als großer Profiteur. Doch inzwischen gilt auch Erdogans Reich als nicht mehr sicher, spätestens seit im Januar zwölf deutsche Touristen bei einem Anschlag in Istanbul ums Leben kamen.

Vor allem die plötzliche Abstinenz der Russen tut den Türken richtig weh. Diese hatten das Land erst vor einigen Jahren für sich entdeckt. 2014 waren 4,5 Millionen Russen zu Besuch. Vor allem kaufkräftige. Von solchen Zahlen kann inzwischen nicht mehr die Rede sein. Im März dieses Jahres kamen nur noch knapp 24.000 Besucher – im Vergleich zum Vorjahr ein Rückgang um 60 Prozent.

Nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch die türkische Armee im Grenzgebiet zu Syrien Ende November hatte der Kreml umgehend Sanktionen gegen die Türkei verhängt. Zuerst gab das Außenministerium eine Reisewarnung aus. Kurz darauf durften russische Reisebüros keine Touren mehr in die Türkei anbieten. Zudem wurden Charterflüge an die türkische Mittelmeerküste gestrichen.

Auch bei den Deutschen mit rund 5,5 Millionen Reisen im vergangenen Jahr die größten Türkei-Fans, macht sich Skepsis breit. Kein Wunder: „Landesweit ist weiter mit politischen Spannungen sowie gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen zu rechnen”, lautet der aktuelle Reisehinweis des Auswärtigen Amtes.

Nahezu logisch also, dass etwa TUI-Chef Friedrich Joussen im Februar einen Buchungseinbruch um 40 Prozent vermelden musste, nachdem es im Januar einen Anschlag in Istanbul gegeben hatte. Andere Reiseveranstalter beobachten das gleiche Phänomen. Sie verlagern ihre Kapazitäten deshalb mit aller Kraft Richtung Südeuropa. In den Sommerferien wird es an der Türkischen Riviera so leer und günstig wie lange nicht.

Kernsektor der türkischen Ökonomie

„Die Finanzmärkte schauen sehr genau auf die Besucherzahlen, denn Tourismus ist einer der Kernsektoren der türkischen Ökonomie”, sagt Timothy Ash, Leiter Schwellenländer beim japanischen Bankhaus Nomura.

„Der Tourismus ist wichtig, um den Bedarf an harten Devisen zu decken.” Hier muss sich Ankara auf kräftige Einbußen gefasst machen. Die Einnahmen aus dem Tourismus könnten nach Prognosen des Politikanalysehauses Eurasia Group in diesem Jahr unter die Marke von umgerechnet 20 Milliarden Dollar fallen, zum ersten Mal seit der Weltwirtschaftskrise von 2008. In guten Zeiten lagen sie bei rund 30 Milliarden Dollar.

Wie schlimm es um den Tourismus steht, lässt sich bereits an den Zahlen von Turkish Airlines ablesen. Die staatseigene Fluglinie präsentierte in dieser Woche den größten Quartalsverlust seit mindestens 1999. Ein wesentlicher Grund für das Minus von umgerechnet 421 Millionen Dollar ist die schlechte Auslastung der Maschinen. Der durchschnittliche Ladefaktor ist unter 75 Prozent gefallen. Und es könnte noch schlimmer werden. Denn die Fluglinie wird die Kapazitäten in diesem Sommer um 14 Prozent ausweiten.

Weil viele ausländische Carrier die Türkei nicht mehr anfliegen, soll so ein schlimmer Einbruch der Touristenzahlen offensichtlich verhindert werden, auch wenn sich das Geschäft als unprofitabel herausstellen dürfte. Die Aktie der Fluglinie ist daraufhin ins Trudeln geraten. 14 Prozent ging es binnen eines Monats nach unten. Der breitere Tourismus-Index der Börse Istanbul hat seit Mitte April sechs Prozent an Wert eingebüßt.

Insgesamt beobachten die globalen Investoren die Türkei mit Argusaugen. Die überraschende Ablösung von Premierminister Davotoglu hat die Märkte am Bosporus kräftig durchgeschüttelt. Turbulent geht es vor allem an den Devisenmärkten zu, die blitzschnell auf Ereignisse reagieren. Die türkische Lira hat im Mai zum Dollar mehr als 5,5 Prozent an Wert verloren, zum Euro betrug der Verlust gut fünf Prozent.

Reserven unter ein kritisches Level gefallen

Auch die Anleihemärkte, die das Risiko einzelner Staaten bewerten, sehen die Türkei viel kritischer. Sichtbar wird das an der Rendite zehnjähriger Türkei-Bonds. Die ist gleich um einen ganzen Prozentpunkt von 9,1 auf 10,2 Prozent in die Höhe geschnellt. Das war der schärfste Anstieg seit über einem Jahr.

„Die politischen Risiken rechtfertigen eine Reduzierung der Türkei-Investments”, schreiben die Strategen der amerikanischen Investmentbank JP Morgan. Sie empfehlen den globalen Anlegern, die Türkei in den Portfolien nur noch niedriger zu gewichten.

Für die Schaffung seines Präsidialsystems kann er keine negativen Schlagzeilen aus der Wirtschaft gebrauchen. Doch die kommen derzeit Schlag auf Schlag. So hat die Weltbank kürzlich die Wachstumsaussichten für die Türkei wegen des wegbrechenden Tourismus deutlich skeptischer beurteilt. Für dieses Jahr sei lediglich noch mit 3,5 Prozent zu rechnen. 2015 war die Wirtschaft noch um vier Prozent gewachsen. Erdogan dagegen rechnet weiter mit einem Plus von 4,5 Prozent im laufenden Jahr.

Großen finanziellen Spielraum hat der Präsident nicht. Die Devisenreserven des Landes sind bereits kräftig abgeschmolzen. Gemessen an den Standards des Internationalen Währungsfonds (IWF), ist die Türkei eines der wenigen Länder, in denen die Reserven unter ein kritisches Level gefallen sind.

Deshalb ist fragwürdig, wie lange Erdogan sich seine große Show noch leisten kann – und ob es ihm in Zukunft weiterhin gelingt, andere Staaten und Investoren vorzuführen.

http://www.welt.de/wirtschaft/article155271952/Das-ist-die-grosse-Schwaeche-des-Koenigs-von-Europa.html