Warum die Glocken um sechs Uhr läuten

26 Zünfte, ein Umzug, ein Böögg – aber wie hängt das alles zusammen? Ein paar Stichworte zum Zürcher Sechseläuten.
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Sechseläuten. Zünfte gibt es schon lange, genau seit 1336. Und das Sechseläuten? Da wird es schwieriger. So, wie wir es heute kennen, ist das Zürcher Frühlingsfest gute hundert Jahre alt. Der Begriff Sechseläuten allerdings ist wesentlich älter. Seit Jahrhunderten wurde am ersten Montag, der auf die Tagundnachtgleiche folgte, abends um sechs Uhr die Feierabendglocke des Grossmünsters geläutet – zum Zeichen, dass der Frühling gekommen war. Das war das Sechseläuten. Das jährliche Zeichen, dass abends nun nicht mehr nur bis fünf, sondern bis sechs Uhr gearbeitet werden durfte. Das Sechseläuten ist also das Fest der Arbeitszeitverlängerung. Seit dem 18. Jahrhundert veranstalteten die Zünfte am Sechseläuten ein Essen für ihre Mitglieder. Bis sich Umzug, Böögg, Feuer und Zünfte zum heutigen Fest zusammenfanden, ging es aber mehr als ein Jahrhundert.

Böögg I. Er ist der Protagonist des Sechseläutens. Jahr für Jahr tritt er an, nur um mitten auf dem Sechseläutenplatz auf dem Scheiterhaufen feierlich exekutiert zu werden. Das mutet recht heidnisch an. Und es ist es auch. Bööggen im Sinn von vermummten Schreckgestalten sind in Zürich seit dem 15. Jahrhundert belegt. Vor allem Kinder begaben sich mit Masken durch die Strassen, um Leute zu erschrecken und anzubetteln. Irgendwann ist dann der Brauch aufgekommen, Bööggen zu verbrennen. Anscheinend geschah das erstmals im 18. Jahrhundert, und zwar an der Mauer des Lindenhofs gegen die Limmat hin. Später begannen die Buben mit dem Brauch, im Kratzquartier zwischen Fraumünster und See im Frühling eine Strohpuppe anzuzünden, der schliesslich als Verkörperung des Winters betrachtet wurde und sich bald der heutigen Form annäherte. Schon 1809 berichtet ein deutscher Reiseschriftsteller vom «Fest des verbrannten Schneemanns». Mit der Zeit schlossen sich verschiedene Vereinigungen dem Brauch. Die Zünfte allerdings hatten damit zunächst nichts zu tun. Erst seit 1902 wird der Böögg dort verbrannt, wo er noch heute verbrannt wird – auf dem Sechseläutenplatz.

Böögg II. Auch der Böögg geht mit der Zeit. Aus der einfachen Strohpuppe von einst ist mittlerweile ein Hightech-Ding geworden. Er thront auf einem zehn Meter hohen und sieben Meter breiten Holzhaufen, der aus rund 4500 Holzbürdeli aufgeschichtet ist. Das Bürdeli werden aus dem Holz der Stadtzürcher Alleebäume gebunden. Zum Böögg selber: Er ist 3 Meter 40 gross, 80 Kilogramm schwer, und der Kopf hat einen Umfang von 1 Meter 80. Und, der Mann ist hochexplosiv: In seinem Körper verbergen sich rund hundert sogenannte Kracher, Böller und Donnerschläge, die dafür sorgen, dass die Verbrennung auch akustisch ein Erlebnis wird. Je schneller der Kopf des Bööggs explodiert, desto rascher beginnt der Sommer, sagt man. Während der Böögg brennt, umreiten ihn die Reitergruppen von Constaffel und Zünften, und zwar je dreimal. Ihre Zunftspiele spielen dazu den Sechseläuten-Marsch. Mit einer Ausnahme: Das Spiel der Zunft zum Weggen spielt den Weggen-Marsch «Feurige Bomben». Übrigens, die schnellsten Bööggen sind in weniger als fünf Minuten abgebrannt, bei den längsten dauerte es geschlagene vierzig Minuten, bis der Kopf explodierte, das letzte Mal war das 1988.

Zünfte. Bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts hatten die Handwerker nichts zu sagen in Zürich. Die politische Macht lag bei den Rittern und freien Bürgern, die den Rat stellten. Erst mit der Zunftverfassung von 1336 änderte sich das. Am 7. Juni vertrieb Ritter Rudolf Brun gemeinsam mit Handwerkern und Händlern die Ratsherren aus dem Rathaus. Die bestehenden, meist eher losen Handwerkervereinigungen wurden zu festen Organisationen, den Zünften, zusammengefasst. Und aus ihnen wurden Vertreter in den Grossen Rat abgesandt. Bis ins 18. Jahrhundert musste jeder Wahlberechtigte, der in der Stadt Grundbesitz hatte, Mitglied einer Zunft sein. Sonst konnte er sein Wahlrecht nicht ausüben. Daneben hatten die Zünfte auch eine gesellschaftliche Funktion, etwa in der Fürsorge für ihre Mitglieder. Daneben unterhielten sie Trinkstuben, auf denen sie die Geselligkeit pflegten. Die Zünfte überstanden sogar das Ende des Stadtstaats, verloren 1798 aber ihre politische Funktion. Als die gesamte Einwohnerschaft 1866 das Wahlrecht bekam, wurden sie auch als Wahlkreise überflüssig, wurden zu rein gesellschaftlichen Vereinigungen – und begannen sich beispielsweise um das Sechseläuten zu kümmern. 26 Zünfte sind es heute – eingeschlossen die Gesellschaft zur Constaffel, in der die vereinigt wurden «so keine Zunft habend», also die Adligen und die Angehörigen der alten Führungsschicht.

Umzug. Ein Umzug? Hätte man beispielsweise den Meisen-Zünfter Salomon Gessner um 1760 gefragt, was er von einem Zug der Zünfte durch Zürich halten würde, er hätte wohl mitleidig gelächelt. Die Zünfte prägten das gesellschaftliche und politische Leben der Stadt. Sie waren präsent, auch ohne dass sie sich der Bevölkerung feierlich präsentiert hätten. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts begannen Mitglieder von Zünften damit, kleine nächtliche Umzüge zu veranstalten, aus denen sich nach und nach das Sechseläuten entwickelte. Damit war aber auch deutlich geworden, dass die Pflege von Geselligkeit, Brauchtum und Tradition das einzige war, das den Zünften noch geblieben war. Seit Ende des 19. Jahrhunderts entstanden aus dieser neuen Tradition wieder neue Zünfte. Seit den 1860-er Jahren verbanden sich mit dem Verbrennen des Bööggs kleinere Umzüge, die sich nach und nach zu dem formierten, was wir heute als Sechseläutenumzug kennen. Und: Seine klar strukturierte Form fand der Umzug erst im Lauf der Zeit. Die ersten Umzüge hatten weit mehr mit munterem Fasnachtstreiben zu tun als mit dem heutigen Sechseläuten. Seit den neunziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts wird am Sonntag vor dem Sechseläuten ein gesonderter Kinderumzug abgehalten.

Frauen. Ein heikles Thema am Sechseläuten? Ja. Obwohl, eigentlich müsste es das nicht sein. In früheren Jahrhunderten war es völlig klar, dass Frauen unter bestimmten Bedingungen Mitglied in einer Zunft sein konnten. Dass sich die Rolle der Frauen heute darauf beschränkt, beim Umzug am Strassenrand zu stehen und den edlen Herren Blumen zu bringen, ist eine historische Errungenschaft jüngerer Zeit. Und zu korrigieren ist sie ganz offensichtlich kaum. Die Versuche der Gesellschaft zu Fraumünster, den 26 Männerbünden ein weibliches Pendant zuzugesellen, sind bisher fehlgeschlagen. Und auch wenn die Zünfte mit der kategorischen Ablehnung der Frauenzunft oder der Aufnahme von Frauen in ihre eigenen Reihen je länger, je mehr in Rechtfertigungsnot geraten, man hält eisern an der bisherigen Regelung fest. Zurzeit sind die Frauen der Frauenzunft am Umzug als Gäste geduldet. Damit muss es vorderhand sein Bewenden haben. Wie es in zwanzig Jahren aussieht? Wer weiss. Aber eins ist sicher, die Debatte ist noch nicht zu Ende.

Wein. Wein gehört zu einem Fest. Zu einem Sechseläuten sowieso. Und auch wenn sich das Sechseläuten dadurch auszeichnet, dass es sich Jahr für Jahr im gleichen Rahmen abspielt und nur ab und zu kleine Neuerungen diese Regel bestätigt: Dieses Jahr gibt es eine ganz besondere Neuerung, die mindestens ein bisschen mit dem Sechseläuten zusammenhängt. Ab diesem Jahr wird Wasser zu Wein, nämlich im neuen Brunnen auf dem Münsterhof. Aus dem Rohr, aus dem sich jahraus, jahrein Wasser in die kleine Brunnenschale ergiesst, wird künftig auch Wein fliessen – allerdings nur zu besonderen Gelegenheiten. Die Macht, Wasser in Wein zu verwandeln, liegt bei der Zunft zur Waag. Ein Weinbrunnen also. Das könnte auch die versöhnen, die sich noch nicht an den neuen Brunnen gewöhnt haben, der nun einen der ältesten Plätze Zürichs ziert.

Forrás: .nzz.ch