Warum der Terror unseren Wohlstand bedroht
Madrid, London, Paris: Bisher konnte der Terror Europas Wirtschaft nicht erschüttern. Der Anschlag von Brüssel könnte sie aber empfindlich treffen – wegen überzogener politischer Reaktionen.
Terror, so grausam er auch ist, hat Europas Wirtschaft in der Vergangenheit nie dauerhaft ins Chaos gestürzt. Madrid, London, Paris – immer beruhigten sich die Märkte schnell. Aber dieses Mal könnte es anders kommen. Brüssel ist ein neuer Fall, warnen Ökonomen und Historiker.
Die Anschläge auf die belgische Hauptstadt könnten den Kontinent nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich aus dem Takt bringen. Nicht sofort, aber in der nahen Zukunft. Dann, wenn die Angst der Menschen Europas Populisten beflügelt – jene politischen Kräfte, die für wirtschaftsfeindliche Ideen kämpfen: geschlossene Grenzen, ein Ende des Freihandels, womöglich gar ein Austritt aus der Europäischen Union. Droht ein Rückfall in die ökonomische Steinzeit? Oder wird Europas wirtschaftliche Freizügigkeit überschätzt?
Die ersten Populisten haben sich schon zu Wort gemeldet. „Wir haben eine eigene Kultur, sie ist verschüttgegangen unter all dem Multikulti-Gequatsche”, sagt die AfD-Politikerin Beatrix von Storch. „Die Anschläge sind das Ergebnis von Schengen”, heißt es von der britischen Anti-EU-Partei UK Independence (Ukip). Freizügigkeit und laxe Grenzkontrollen seien das Problem. Polens Regierungschefin Beata Szydlo sieht nach den Terroranschlägen von Brüssel „derzeit keine Möglichkeit, dass Flüchtlinge nach Polen kommen”.
Es sind Botschaften, die neue Anhänger finden werden. „Nach den Ereignissen von Brüssel ist es schwieriger denn je, nationalistisch denkende Akteure zu stoppen”, sagt der Schweizer Ökonom Thomas Straubhaar. „Die, die sich einigeln wollen, erfahren jetzt Zuspruch.” Selbst von etablierten Politikern ist zu hören, die globalisierte Welt erleichtere den Terror – ein Argument, das man Straubhaar zufolge ernst nehmen muss. Die Skeptiker müssen sich verstanden fühlen, sonst könne der Nationalismus in der breiten Bevölkerung ankommen. Das sieht auch Mujtaba Rahman so, Analyst des amerikanischen Beratungshauses Eurasia. Die Anschläge dürften die fremdenfeindliche Stimmung verstärken, die in der Flüchtlingskrise ohnehin herrsche, sagt er. „Sie könnten der Sargnagel für Schengen sein.”
„Ein echtes Horrorszenario”
Das wäre ein ökonomisches Desaster. 100 Milliarden Euro könnte die Wiedereinführung von Grenzkontrollen Europa bis 2020 kosten, wie das holländische Wirtschaftsforschungsinstitut CPB ausgerechnet hat. Das entspricht 0,7 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung. Das Analysehaus Prognos erwartet für die kommenden zehn Jahre sogar eine Belastung von 470 Milliarden Euro, vor allem wegen höherer Importpreise.
„Für Großkonzerne wie Mittelständler ist ein politischer und wirtschaftlicher Zerfall der EU ein echtes Horrorszenario”, sagt der Ökonom Straubhaar, der bis 2014 das Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut leitete. „Sehr viele haben wichtige Teile ihrer Produktion in andere EU-Länder verlagert.” 58 Prozent der deutschen Ausfuhren gehen in die EU-Länder. Europa hat vor allem einen Handelspartner: Europa. Konkret: das offene, geeinte Europa.
Aber nun schlägt die Stunde der Abschotter. „Die Terroranschläge werden vor allem jene nutzen, die die EU zerfallen sehen wollen”, sagt Lena Komileva, Chefstrategin der Beratungsfirma G Plus Economics – etwa die Befürworter eines Austritts Großbritanniens. Die Angst vor diesem Brexit lässt sich messen. In Zahlen sieht sie so aus: Nach den Bombenexplosionen hat das britische Pfund zum Dollar 2,6 Prozent an Wert verloren, zugleich stieg die Pleitewahrscheinlichkeit des Landes auf mehr als drei Prozent.
In den Augen der Händler birgt der Brexit ein enormes Risiko. Premier David Cameron hatte immer wieder gesagt, das Land sei in der EU sicherer als außerhalb – ein Argument, das nun nur noch schwer verfangen dürfte. „Die Menschen haben eher das Gefühl, dass die EU die Sicherheitslage nicht mehr unter Kontrolle hat”, sagt der Eurasia-Experte Rahman.
Der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser glaubt hingegen, die Folgen des Terrors seien beherrschbar. Eine Rückkehr zu Schengen in der alten Form sei zwar unwahrscheinlich – aber das müsse den Binnenmarkt nicht zwingend lähmen, sagt er. Abelshauser hält die Horrorzahlen der Ökonomen für übertrieben. Er sieht im Zurückdrehen europäischer Integration sogar ein nützliches Signal – „um offensichtliche Überschreitungen des in Europa Sinnvollen zu begradigen”.
Aus Europas Antwort auf die Anschläge am Dienstag lasse sich zudem eine Lehre ziehen. „Im Streit darüber, ob die EU eine Vertragsgemeinschaft souveräner Staaten ist oder ein sich immer weiter entwickelnder souveräner Staat, wie die gängige politische Semantik behauptet, schafft der Terror Gewissheit”, sagt Abelshauser. Es gelte der alte Grundsatz: Souverän ist, wer in Krisensituationen entscheidet. Die EU habe diese Rolle schon in der Finanzkrise 2008 nicht eingenommen, jetzt, in der Ausnahmelage nach Brüssel, schweige sie erneut. Der weitere Machtverlust eines ohnehin schwachen Akteurs bleibt in dieser Logik daher ohne tief greifende Folgen.