Es war einmal ein Bundespräsident, der hielt eine Ruck-Rede. Es war derselbe Bundespräsident, Roman Herzog nämlich, der vor 20 Jahren den Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus einführte und die erste Rede anlässlich dieses Tags im Parlament hielt. Neben dem Erschrecken darüber, dass es ein halbes Jahrhundert dauerte, bis es dazu kam, kann man aus diesem Zusammentreffen lernen, dass die Erinnerung nicht der Zukunft, Schuldbekenntnis nicht Selbstbewusstsein im Weg stehen müssen.

So behaupteten das nämlich damals die neurechten Anhänger der „selbstbewussten Nation”; und bis heute wird die Mär munter weiterverbreitet, Deutschland werde durch sein schlechtes Gewissen geknechtet. Eine Mär, die bezeichnenderweise zuerst von dem Linksterroristen Dieter Kunzelmann in die Welt gesetzt wurde.

Wenn es je eines Beweises bedurft hätte, dass unser Land würdiges Gedenken mit Zukunftsoptimismus verbinden kann, so war die Gedenkstunde im Deutschen Bundestag anlässlich des 71. Jahrestags der Befreiung des VernichtungslagersAuschwitz ein solcher Beweis. Sie begann mit der Mahnung Norbert Lammerts, sich der steten Gefährdung der Freiheit bewusst zu sein, und endete mit Ruth Klügers Würdigung des „schlichten und heroischen Slogans ‘Wir schaffen das!'”. Dazwischen lag eine Geschichtsstunde, wie man sie jeder Schulklasse der Republik wünschte.

Ruth Klüger verdankt ihr Leben der Sklavenarbeit. Angekommen in Auschwitz mit einem Transport aus Theresienstadt, wäre die Zwölfjährige, wie fast alle Mitreisenden, sofort ins Gas geschickt worden, hätte ihr nicht eine Frau in der Schlange vor der Selektion zugezischt, sie solle sich als 15-Jährige ausgeben. So wurde sie statt zum sofortigen Tod durch Ersticken zum langsamen Tod durch Arbeit selektiert.

Dem Tod kam die Befreiung zuvor. Nun ist die schmächtige Zwölfjährige von einst eine schmächtige, aber selbstbewusste 84-Jährige. Die Literaturwissenschaftlerin, die auch als Autorin für die „Welt” schreibt, beherrscht den Bundestag wie eine Professorin ihren Hörsaal. Wo nehmen wir, fragt man sich unweigerlich, solche Menschen her, wenn die Generation, die so viel durchlitt und überlebte, gegangen ist? Eine Frage, die keine rhetorische zu sein braucht. Es ist ja nicht so, als ob das Leiden aufgehört hätte.

Wachsam sein gegen die Unmenschlichkeit

Vor Klügers Rede erinnert Parlamentspräsident Lammert an die Ausmaße der Sklavenarbeit: 13 Millionen Zwangsarbeiter gab es allein im Deutschen Reich: ein Viertel aller Arbeiter und Angestellten. Allein in Berlin gab es 3000 Sammelunterkünfte für eine halbe Million Arbeiter. Alle, so Lammert, hätten davon gewusst, doch erst 40 Jahre nach Kriegsende begann zögerlich die Erinnerung.

Erst im Jahre 2000 gab sich die deutsche Wirtschaft einen Ruck und richtete zusammen mit dem Staat die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft ein, die bisher an etwa eineinhalb Millionen ehemalige Zwangsarbeiter Entschädigungszahlungen geleistet hat. Eine Geste sei das, so Lammert, mehr nicht. Eine Geste freilich, die damals auf den erbitterten Widerstand nicht weniger Bürger stieß, die meinten, irgendwann müsse doch Schluss mit dem ewigen Zahlen sein.

Aber eine Obergrenze des Gedenkens kann es eben nicht geben, so schwer die Last auch sein mag. Jede Generation müsse ihre eigene Kultur des Gedenkens entwickeln, so Lammert, „auch die Nachgeborenen, auch diejenigen, die aus welchen Gründen auch immer später zu uns gekommen sind”. Man müsse wachsam sein gegen die Unmenschlichkeit, den Antisemitismus und den Rassismus: „Das gilt für alle, die hier leben.”

Sexuell ausgebeutet – aber ohne Anspruch auf Entschädigung

Ruth Klüger beginnt ihre Rede mit der Erinnerung an den Winter 1944/45 im Frauenlager Christianstadt, einem Außenlager des KZ Groß-Rosen. Nach dem „Kadaverdunst” von Auschwitz und dem Wegfall der unmittelbaren Todesangst seien die ersten Tage vom schieren „Glück” erfüllt worden, am Leben zu sein und Bäume zu sehen. Bald jedoch hätten sich Kälte und Hunger in ihren Körper gefressen.

Die Frauen mussten Arbeiten verrichten, deren Sinn sich ihnen nie erschloss. Karl Marx hätte seine Freude an diesem Beispiel total entfremdeter Arbeit gehabt. Es habe schon einen Akt der „Sabotage” bedeutet, auswendig gelernte Gedichte aufzusagen. Mit einem „kindlichen, vorfeministischen Trotz” habe sie damals wahrgenommen, dass es den Deutschen nicht gelingen wollte, die jüdischen Frauen dazu zu bringen, im Gleichschritt zur Arbeit zu marschieren. „Bei Männern ging es eher.”

Klüger würdigt die Leistung dieser Frauen – „Frauen aus der Mittelklasse, um die Jahrhundertwende geboren, die damit gerechnet hatten, von Männern ernährt und beschützt zu werden”, und die nun überleben mussten gegen Männer, die sie schutzlos verhungern ließen. Der Begriff „Sklavenarbeit” erfasst diesen Zustand nicht, sagt sie. Denn der Sklavenbesitzer hat immerhin ein Interesse daran, sein Eigentum am Leben zu erhalten. Solange der deutsche Beutezug anhielt, gab es jedoch immer einen Nachschub an Zwangsarbeitern.

Klüger erinnert an die „sexuelle Zwangsarbeit” der Prostituierten, die – vor allem aus dem Frauen-KZ Ravensbrück bei Berlin – an Konzentrationslager wie Mauthausen geliefert wurden, wo sie privilegierten Häftlingen „zugeführt” wurden, wie es Heinrich Himmler ausdrückte. Nach dem Krieg sei ihr Schicksal in allerlei pornografischen Heften verarbeitet worden, während die Frauen selbst nicht als Zwangsarbeiterinnen eingestuft wurden und keinen Anspruch auf Entschädigung hatten. Denn die Nachkriegsgesellschaft teilte mit den Nazis jenes „uralte Vorurteil, Frauen würden durch den Geschlechtsverkehr erniedrigt”.

„Bewunderung” für die deutsche Flüchtlingspolitik

Und nicht nur das. Klüger erinnerte sich, wie sie einmal „in der Schlange vor der Kasse” in einem Göttinger Geschäft stand, als neben ihr ein Mann schimpfte: „Die Ausländer sollte man alle ins Gas schicken und die Politiker gleich mit.” Aber auch in weniger brutalen Äußerungen kam und kommt bis heute der Wunsch zum Ausdruck, das Gewesene zu verdrängen.

Sie habe eine gebildete Freundin, Oberstudienrätin, die auf dem Hof ihres Vaters arbeitende Polen als „Gastarbeiter” bezeichnet; viele Deutsche wüssten zu berichten, die ihren Familien zugeteilten Arbeiterinnen hätten es „bei uns gut gehabt” und sie sogar gemocht. Doch wer als Zwangsarbeiterin mit dem Feind sympathisierte, habe „ein Stück ihrer Identität aufgegeben”, so Klüger. Das wollten die guten Deutschen nicht begreifen: „Der Feind, das ist immer der andere.”

Die Lektion ist da noch nicht zu Ende. Sie habe „mit Verwunderung, die in Bewunderung überging” die Öffnung der Grenzen und die Aufnahme vonFlüchtlingen gesehen, sagt Klüger. Ja, das sei „der Hauptgrund”, weshalb sie, die gegen alle Gedenkrituale skeptisch ist, gekommen ist. Und da fiel es, das Wort von der „schlichten und heroischen” Parole.

Es wäre so leicht, diese Veranstaltung von rechts zu kritisieren. Wie sie beendet wurde mit dem von Kommunisten geschriebenen Volksfrontlied der „Moorsoldaten”; wie sie instrumentalisiert wurde, um die Politik der Kanzlerin mit den Weihen der Lehren aus der Geschichte auszustatten. Und es lassen sich in den Tiefen der elektronischen deutschen Seele andere, dunklere Töne über den jüdischen Kosmopolitismus vernehmen.

Kann es aber sein, dass Deutschland erwachsen genug ist, den Widerstand der Kommunisten in seine Geschichte mit aufzunehmen, ohne den Antikommunismus zu vergessen? Kann es sein, dass wir wirklich, wie Ruth Klüger sagt, wegen der Flüchtlingspolitik „den Beifall der Welt” gewinnen, aber nur das Geschimpfe aus der europäischen Provinz wahrnehmen? Kann es sein, dass man nach dieser Veranstaltung sich einen Ruck gibt und ein wenig aufrechter geht? Es könnte sein.

http://www.welt.de/politik/deutschland/article151554273/Ruehrende-Bewunderung-fuer-Merkels-Wir-schaffen-das.html